Die Flucht
keinen Zweck.
»Schnell!«, sage ich. »Bevor es wegläuft ...«
Kaum habe ich das gesagt, höre ich ihn. Den Riss im Lärm, so groß und so schrecklich wie das Leben selbst, ich höre ihn, ein klein wenig entfernt, hinter einer der Spackle-Hütten, hinter ein paar Büschen.
Und diesmal läuft das Wesen nicht davon.
»Ruhig!«, bellt Manchee völlig überdreht und rennt in Richtung der Stille.
Sie bewegt sich, und obwohl ich die Beklemmung in meiner Brust wieder spüre und all die schrecklichen, traurigen Ereignisse wieder vor Augen habe, bleibe ich diesmal nicht stehen, diesmal laufe ich hinter meinem Hund her, und ich halte nicht an, und ich hole tief Luft, und ich schlucke das beklemmende Gefühl hinunter, und ich wische mir die Tränen aus den Augen und packe das Messer fester, und ich höre, wie Manchee bellt, höre die Stille, sie kommt direkt hinter diesem Baum hervor, direkt hinter diesem Baum, direkt hinter diesem Baum, und ich schreie laut und gehe um den Baum herum, und ich renne auf die Stille zu, und ich fletsche die Zähne, und ich schreie, und Manchee bellt und ...
... und ich bleibe stehen.
Ich bleibe wie angewurzelt stehen.
Nein, ich lasse das Messer um keinen Preis los.
Da ist es, es schaut uns an, schwer atmend kauert es an einem Baumstamm, duckt sich vor Manchee, seine Augen sind fast leblos vor Angst, nur mit den Armen versucht es mit kümmerlichen Drohgebärden, uns einzuschüchtern.
Und ich bleibe einfach stehen.
Ich halte mein Messer fest.
»Spackle!«, bellt Manchee, ist jedoch zu feige, um anzugreifen, jetzt, da ich stehen geblieben bin. »Spackle! Spackle!«
»Halt die Schnauze, Manchee«, befehle ich ihm.
»Spackle!«
»Ich habe gesagt, du sollst die Schnauze halten!«, schreie ich ihn an und endlich ist er still.
»Spackle ?«, fragt Manchee wieder unsicher.
Ich schlucke, versuche den Kloß in meinem Hals loszuwerden, die unbeschreibliche Traurigkeit, die mich befällt, die auf mich einstürmt, als ich das Etwas betrachte, das mich anblickt. Wissen ist gefährlich, und Männer lügen, und die Welt dreht sich weiter, ob es mir passt oder nicht.
Denn es ist kein Spackle.
»Das ist ein Mädchen«, sage ich.
Es ist ein Mädchen.
T EIL II
7
Stell dir vor, da ist ein Mädchen
»Es ist ein Mädchen«, wiederhole ich, noch immer nach Atem ringend, noch immer mit dem Druck auf der Brust und ganz eindeutig noch immer mit einem weit vorgestreckten Messer.
Ein Mädchen.
Es sieht uns an, als rechne es damit, dass wir es töten. Zusammengerollt kauert es da, versucht sich so klein wie möglich zu machen und wendet den Blick kaum von Manchee, es sei denn, um kurz zu mir herüberzuschauen.
Zu mir und dem Messer.
Manchee hechelt und schnauft, sein Nackenfell ist gesträubt. Er hopst umher wie auf glühenden Kohlen und sieht dabei so verstört und aufgeregt aus wie ich in meinem völlig aussichtslosen Bemühen, irgendwie ruhig zu bleiben.
»Was ist Mädchen?«, bellt er. »Was ist Mädchen?« Natürlich meint er: »Was ist ein Mädchen?«
»Was ist Mädchen?«, bellt er wieder, und als das Mädchen plötzlich Anstalten macht, mit einem Satz hinter die große Wurzel zu flüchten, vor der es kauert, verwandelt sich Manchees Bellen in ein bedrohliches Knurren. »Bleib, bleib, bleib, bleib, bleib ...«
»Braver Hund«, sage ich, obwohl ich nicht weiß, was an dem, was er macht, brav sein soll, aber was könnte ich dennsonst sagen? Das alles ergibt keinen Sinn, überhaupt keinen, es ist, als würde alles wegrutschen, als wäre die Welt eine schiefe Tischplatte und alles purzelt herunter.
Ich bin Todd Hewitt, denke ich bei mir, aber wer weiß, vielleicht stimmt das ja gar nicht mehr?
»Wer bist du?«, frage ich schließlich, für den Fall, dass das Mädchen mich trotz meines tobenden Lärms und Manchees aufgeregtem Kläffen hören kann. »Wer bist du?«, wiederhole ich lauter und deutlicher. »Was machst du hier? Woher kommst du?«
Sie sieht mich an, endlich, wendet den Blick von Manchee, sogar länger als eine Sekunde. Sie schaut auf mein Messer und dann auf mein Gesicht über dem Messer.
Sie schaut mich an.
Sie schaut.
Sie.
Ich weiß, was ein Mädchen ist. Klar weiß ich das. Ich habe sie gesehen, im Lärm ihrer Väter in der Stadt, die ihre Ehefrauen betrauerten und die Töchter, wenn auch bei Weitem nicht so oft. Außerdem habe ich sie in Videos gesehen. Mädchen sind zierlich und höflich und lächeln gern. Sie tragen Kleider, ihr Haar ist lang und hinter dem Kopf
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