Die Flucht
kann.
Mein Blick gleitet hinaus in die Schwärze des Sumpfs, als würde ich jemanden kommen sehen. Aber da ist nichts, natürlich ist da nichts, auch kein Geräusch. Niemand ist in der Nähe. Noch nicht.
Ich blicke wieder aufs Feuer. »Aber nur für einen Augenblick«, erkläre ich.
Dann trete ich näher und fange an, mir die Hände zu wärmen. Den Rucksack behalte ich auf dem Rücken. Sie reißt eines der Päckchen auf und wirft es mir zu. Ich starre es ratlos an, bis sie ihr eigenes Päckchen aufmacht und etwas hervorholt, das aussieht wie getrocknete Früchte, und anfängt zu essen.
Sie hat mir etwas zu essen gegeben. Und Feuer.
Ihr Gesicht ist immer noch ausdruckslos, blank wie ein Stein, während sie da am Feuer steht und isst. Ich fange ebenfalls an zu essen. Die Früchte, oder was immer es ist, sehen aus wie kleine geschrumpfte Kügelchen, sie sind süß und zäh, und es dauert keine halbe Minute, da habe ich die ganze Packung aufgegessen, ehe mir auffällt, dass Manchee mich anbettelt.
»Todd?«, sagte er und leckt sich die Lefzen.
»Oh«, antworte ich. »Tut mir leid.«
Sie sieht erst mich an, danach Manchee, dann nimmt sie eine Handvoll aus ihrer eigenen Packung und hält sie Manchee hin. Als er auf sie zutrottet, weicht sie unwillkürlich ein wenig zurück und lässt die Früchte auf den Boden fallen. Manchee ist das egal. Er schlingt sie sofort hinunter.
Ich nicke ihr zu. Sie nickt nicht zurück.
Inzwischen ist es tiefe Nacht, außerhalb unseres kleinen Lichtkreises ist alles dunkel. Sogar die Sterne sind nur durch das Loch in den dichten Baumkronen zu sehen, das von dem abgestürzten Schiff stammt. Ich denke an die vergangene Woche zurück, versuche mich daran zu erinnern, ob ich ein Krachen aus dem Sumpf gehört habe, aber ich nehme an, selbst ein so lautes Geräusch würde auf die Entfernung hin im Lärm von Prentisstown untergehen, also wird es hatte wohl keiner gehört haben.
Da fällt mir ein ganz bestimmter Priester ein.
Fast keiner.
»Wir können nicht bleiben«, sage ich. »Tut mir leid wegen deiner Leute und so, aber es gibt noch andere, die hinter uns her sind, auch wenn Aaron tot ist.«
Bei der Erwähnung des Namens zuckt sie zusammen. Offenbar hat er ihr seinen Namen genannt.
»Tut mir leid«, wiederhole ich, obwohl ich selbst nicht genau weiß, was ich damit meine. Ich rücke den Rucksack auf meinen Schultern zurecht. Er fühlt sich schwerer an als je zuvor. »Danke für das Futter, aber jetzt müssen wir los.« Ich schaue sie an. »Du kommst doch mit?«
Sie betrachtet mich einen Augenblick lang, dann stößt sie mit der Stiefelspitze das Feuerholz von dem kleinen grünen Kästchen. Sie bückt sich, drückt den Knopf und nimmt es in die Hand, ohne sich zu verbrennen.
Mann, so was muss ich unbedingt auch haben.
Sie verstaut das Ding in der Tasche, die sie aus dem Wrack geholt hat, und hängt sie sich um. Sie hat also ohnehin vorgehabt mitzukommen.
»Gut«, sage ich, während sie mich wortlos anstarrt. »Ich schätze, wir sind so weit.«
Keiner von uns beiden rührt sich vom Fleck.
Ich werfe einen Blick auf ihre Ma und ihren Pa und sie ebenfalls, aber nur eine Sekunde lang. Ich möchte ihr etwas sagen, irgendwas, bloß was? Ich mache den Mund auf, aber sie fängt an, in ihrer Tasche zu kramen. Vermutlich will sie irgendwas machen, eine Art Abschiedsritual für ihre Leute, irgendeine Geste, aber dann hat sie gefunden, was sie gesucht hat, und es ist nur eine Taschenlampe. Sie knipst sie an – also weiß sie, wie’s geht – und läuft los, zuerst zu mir, dann an mir vorbei, so als wären wir schon auf unserem Fußmarsch.
Und das war’s dann. Als würden ihre Ma und ihr Pa nicht tot im Sumpf liegen.
Ich blicke ihr einen Moment lang nach, ehe ich ihr zurufe: »He!«
Sie dreht sich um.
»Nicht in diese Richtung«, ich deute nach links, »sondern in diese.«
Ich stapfe los, Manchee dicht hinter mir, und als ich mich umdrehe, sehe ich, dass sie uns nachkommt. Ein letzter Blick zurück – wie gern würde ich noch bleiben und das Wrack genauer untersuchen, bestimmt gibt’s da noch mehr interessantes Zeug, oh Junge, das würde ich verdammt gern sehen –, aber wir müssen los, auch wenn’s mitten in der Nacht ist, auch wenn keiner von uns Schlaf abbekommen hat, müssen wir los.
Also tun wir’s auch. Hin und wieder erhaschen wir durch die Bäume einen Blick auf den Horizont und gehen darauf zu, auf den Zwischenraum zwischen dem vorderen Berg und denzwei entfernteren.
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