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Die Flucht

Titel: Die Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Ness
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Beide Monde sind fast voll, und der Himmel ist klar, daher haben wir wenigstens ein klein wenig Licht beim Gehen, trotz des Sumpfbaldachins, trotz der nächtlichen Stunde.
    »Sperr die Ohren auf«, sage ich zu Manchee.
    »Wozu?«, bellt Manchee.
    »Um rauszukriegen, ob uns jemand folgt, du Blödmann.«
    Bei Nacht in einem Sumpf herumzurennen, ist schwierig, wir gehen, so schnell wir können, ich leuchte mit der Taschenlampe, wir steigen über Wurzelwerk und versuchen, nicht allzu tief im Morast zu versinken. Manchee läuft voraus, kehrt wieder zurück, schnüffelt eifrig und bellt gelegentlich, aber ohne triftigen Grund.
    Sie hält gut mit, fällt nie zurück, kommt aber auch nie zu nah an mich heran. Das ist gut, denn auch wenn mein Lärm im Augenblick gedämpfter ist als während des Tages, bedrängt mich ihre Stille immer noch, sobald sie mir ein wenig zu nahe kommt.
    Es ist eigenartig, dass sie nicht mehr Aufhebens um ihre Ma und ihren Pa gemacht hat. Sie hat nicht geweint oder sich verabschiedet oder sonst was. Oder sehe ich das falsch? Ich jedenfalls würde alles dafür geben, Ben und sogar Cillian noch mal zu sehen, selbst wenn sie ... na ja, falls sie ...
    »Ben«, sagt Manchee unten bei meinen Knien.
    »Ich weiß.« Ich kraule ihn zwischen den Ohren.
    Wir gehen weiter.
    Ehrlich gesagt, ich hätte sie begraben wollen. Ich hätte irgendwas tun wollen, keine Ahnung, was.
    Ich bleibe stehen und drehe mich nach ihr um, aber ihr Gesicht ist unverändert, so wie immer. Vielleicht weil sie abgestürztist und ihre Eltern tot sind? Vielleicht weil Aaron sie gefunden hat? Vielleicht weil sie von anderswo herkommt?
    Hat sie denn gar keine Gefühle? Ist sie womöglich innendrin leer?
    Sie sieht mich an, wartet darauf, dass ich weitergehe. Und nur einen Augenblick später tue ich’s auch.
    Stunden. Stunden vergehen langsam und doch schnell in nächtlichem Schweigen. Viele Stunden. Wer weiß, wie weit wir gehen müssen. Wer weiß, ob wir den richtigen Weg eingeschlagen haben oder sonst was, aber es sind Stunden. Hin und wieder höre ich den Lärm eines Nachttiers, die Rufe der Sumpfeulen auf ihrem Weg zur Mahlzeit, wenn sie herabstoßen und sich irgendwelche kurzschwänzigen Mäuse schnappen, deren Lärm so schwach ist, dass man ihn kaum eine Sprache nennen kann. Meistens jedoch höre ich nur den sich schnell entfernenden Lärm der Nachttiere, die von dem Krach, den wir auf unserem Weg durch den Sumpf machen, in die Flucht geschlagen werden.
    Am merkwürdigsten finde ich, dass hinter uns immer noch nichts zu hören ist, niemand verfolgt uns, da ist nirgendwo ein Lärm, kein Knacken von Zweigen, nichts. Vielleicht haben Ben und Cillian die anderen auf eine falsche Fährte gelockt. Vielleicht ist alles gar nicht so schlimm, und ich muss nicht wegrennen, vielleicht ...
    Gerade hält sie inne, um ihren Schuh aus dem Schlamm zu ziehen ...
    Sie.
    Nein. Sie werden kommen. Das einzige »Vielleicht« ist, dass sie womöglich bis zum Morgengrauen warten, um danach umso schneller voranzukommen.
    Also gehen wir weiter und weiter, werden immer müder und halten nur ein einziges Mal an, als wir beide in den Büschen verschwinden, um ungestört zu pinkeln. Dann hole ich etwas von dem Proviant, den Ben mir mitgegeben hat, aus dem Rucksack und verteile kleine Portionen an alle, denn diesmal bin ich an der Reihe, fürs Essen zu sorgen.
    Danach: weiterlaufen und weiterlaufen.
    Aber dann, in der Stunde vor der Morgendämmerung, kann keiner von uns mehr.
    »Wir müssen anhalten«, sage ich und lasse den Rucksack am Fuß eines Baumstamms fallen. »Wir müssen ausruhen.«
    Sie braucht nicht erst überredet zu werden, sie stellt ihre Tasche an einem anderen Baum ab, dann brechen wir beide mehr oder weniger zusammen. Rucksack und Tasche sind unsere Kissen.
    »Fünf Minuten«, sage ich. Manchee rollt sich zu meinen Füßen ein und macht sofort die Augen zu. »Nur fünf Minuten«, rufe ich zu ihr hinüber, sie hat eine kleine Decke aus der Tasche geholt und sich damit zudeckt. »Mach’s dir aber bloß nicht zu gemütlich.«
    Wir müssten eigentlich weiter, keine Frage. Ich will nur mal kurz die Augen zumachen, nur eine Minute oder zwei, nur mal kurz ausruhen, danach wird es umso schneller gehen.
    Nur eine kleine Pause, mehr nicht.
    Ich schlage die Augen auf und die Sonne ist aufgegangen. Noch nicht sehr lange, aber sie ist verdammt noch mal da.
    Mist. Wir haben mindestens eine Stunde verloren, vielleicht zwei.
    Und dann wird mir klar, dass mich

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