Die Fluchweberin
werden, war einfach zu groß. Seit ich mich gestern von Skyler getrennt hatte, war es mir nicht mehr gelungen, die Kette zu ertasten. Ihr Gewicht jedoch spürte ich noch immer.
Obwohl ich fror, entschied ich mich für eine Bluse. Ich hatte es mit einem Pullover versucht, doch der Stoff lastete beinahe unerträglich schwer auf meinem geschundenen Rücken. Wenn ich die Wahl zwischen Schmerzen und Kälte hatte, zog ich Letzteres vor.
Als ich mir die Haare kämmte, erhaschte ich aus dem Augenwinkel einen Blick auf mein Spiegelbild. Für einen Moment sah es so aus, als hätte ich zwei Gesichter – und aus jenem zweiten Gesicht sah mir ein Paar brauner Augen entgegen. Ich ließ die Bürste fallen und starrte in den Spiegel. Da war nur ich. Grüne Augen, helle Haut und die Züge so vertraut wie eh und je. Lange Zeit stand ich einfach nur da und musterte mein Spiegelbild. Wartete darauf, dass sich etwas veränderte, dass ich plötzlich wieder ein Paar brauner Augen sah, das nicht mir gehörte. Doch da war nur mein eigenes gewohntes Gesicht.
Ich machte mich fertig, schnappte mir meine Tasche und machte mich auf den Weg zum Frühstück. Mit jedem Schritt wuchs meine Angst mehr. Wie würde Skyler reagieren? Hatte er es sich womöglich anders überlegt und mich doch gemeldet? Verflucht, ich wusste ja nicht einmal, wie ich mich ihm gegenüber verhalten sollte. Das Beste wäre, ich würde so tun, als hätte sich nichts verändert. Zweifelsohne wüsste er es zu schätzen, wenn ich seine Tarnung auf diese Weise aufrechterhielt. Allerdings war ich mir nicht sicher, ob ich als Schauspielerin genug taugte, um das durchzuziehen. Tatsache war, dass sich ein Teil von mir nach ihm sehnte, nach der Nähe und der Sicherheit, die er mir die ganze Zeit gegeben hatte. Ein anderer Teil allerdings, der, in dem meine Vernunft angesiedelt war, warnte mich davor, allzu blauäugig zu sein. Ich konnte ihm nicht mehr vertrauen.
Als ich schließlich den Speisesaal erreichte, erwartete mich die zweite Überraschung nach dem Klingeln meines Weckers: Skyler stand nicht wie gewohnt vor der Tür. Auch drinnen war er nirgendwo zu sehen. Obwohl ich keinen Appetit hatte, zwang ich mich, etwas zu essen, beschränkte meine Gespräche allerdings auf ein Minimum. Natürlich entging weder Mercy noch den anderen, dass ich noch wortkarger war als sonst. Ich schob es auf die Kopfschmerzen, was immerhin nicht komplett gelogen war, auch wenn das Aspirin den Schmerz in den Hintergrund treten ließ.
Der Tag zog undeutlich und verschwommen an mir vorbei, als läge alles hinter einem dichten Nebelschleier verborgen. Kim sah ich nur beim Essen. Sie hatte ihre arroganteste Maske aufgesetzt und sie mit einer Menge Make-up festgespachtelt. Ihr Lachen war lauter als gewöhnlich und sie vermied es, in Max’ Richtung zu sehen. Soweit ich es beurteilen konnte, schluckte sie keine Tabletten mehr. Es schien ihr tatsächlich besser zu gehen, zumindest so gut es einem gehen konnte, wenn der Freund gerade Schluss gemacht hatte. Neben Kim bereitete mir auch der Zauber keine Schwierigkeiten, abgesehen davon, dass ich nach wie vor die Last um meinen Hals spürte, und Skyler erschien am Vormittag nicht zum Unterricht. Die ganze Zeit über fragte ich mich, ob sein Fernbleiben ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war. War er mit wichtigen Dingen beschäftigt oder wollte ernur nicht mit ansehen, wie seine Kollegen in den Klassenraum stürmten und mich festnahmen?
Seine Abwesenheit machte mich noch nervöser, als wenn er hier gewesen wäre. Die Ungewissheit nagte an mir. Nicht zu wissen, wo er war und was er gerade tat, war schlimmer als eine direkte Konfrontation. Entsprechend erleichtert war ich auch, als er nach dem Mittagessen zum Geschichtsunterricht erschien. Nach der Stunde holte er mir wie gewohnt eine Tasse Tee. Als er sie mir in die Hand gab, achtete ich darauf, dass sich unsere Finger nicht berührten. Es fiel mir auch so schon schwer genug, zu akzeptieren, dass sich unser Verhältnis grundlegend verändert hatte. Auch wenn Skyler das nicht so zu sehen schien. Er wirkte noch immer genauso erleichtert wie letzte Nacht, als er mir eröffnet hatte, froh zu sein, mir nicht länger etwas vormachen zu müssen.
Immerhin war einer von uns zufrieden.
Ich schloss meine Hände um die heiße Tasse und beobachtete, wie der Dampf daraus in die Luft stieg. Schließlich hielt ich es nicht länger aus. Ich hob den Kopf und suchte Skylers Blick. »Willst du mir jetzt erzählen, warum du hier
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