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Die Flüchtlinge

Die Flüchtlinge

Titel: Die Flüchtlinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marta Randall
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Arm. „Du kannst sie dir auch jetzt ansehen.“ Sie deutete auf die Tür. „Na, dann komm.“
    Jes schob seinen Daumen hinter den Gürtel und folgte ihr in das kühle Zwielicht des Hauses hinein.
    Das Baby war pummelig, glatzköpfig und sonnengebräunt. Es lag nackt und auf dem Bauch in einer Wiege. Jes musterte es. Dann berührte er die Schulter der Kleinen mit der Fingerspitze.
    „Ist die winzig“, flüsterte er.
    „Nicht winziger als die meisten“, erwiderte Taine. „Aber bald wird sie so groß sein wie ihre Mutter.“
    Jes dachte darüber nach, aber es schien ihm unmöglich zu sein, daß dieses winzige Baby einmal so groß werden sollte wie Kala Glent. Er schüttelte den Kopf und folgte Taine wieder hinaus.
    „Möchtest du was zu trinken?“ fragte sie, bevor er auch nur daran denken konnte, wie er es am besten anstellte, noch ein wenig hierzubleiben. Er nickte dankbar, und Taine führte ihn in die Küche. Sie öffnete einen dickwandigen Steinkühler und förderte einen Krug mit Saft zutage.
    „Die Versammlung ist immer noch nicht zu Ende“, sagte Jes, als sie ihm einen Becher vollschenkte.
    „Gerede“, sagte Taine abschätzig.
    Sie schenkte sich selbst einen Becher voll und nahm gegenüber von Jes auf der anderen Seite des Tisches Platz. „Man könnte beinahe annehmen, daß die Leute nichts Besseres mit ihrer Zeit anzufangen wüßten.“
    „Aber es ist wichtig“, sagte Jes ernsthaft. „Schließlich geht es darum, daß alles richtig läuft. Sonst …“
    „Ich weiß.“ Taine schüttelte ihr Haar. Es fiel ihr ins Gesicht, ein rotbrauner Vorhang, der das Licht zurückwarf. Jes biß sich auf die Unterlippe, dann trank er seinen Saft. Taine starrte aus dem Fenster.
    „Wohnst du jetzt hier?“ fragte er, um die Stille zu durchbrechen.
    „Ja. Bald werde ich einen Monat lang bei Medi sein. Danach werde ich einige Zeit bei Hoku verbringen.“
    „Bei Hoku?“ Jes sah überrascht auf.
    „Nun, eher in ihrer Praxis. Bis dahin werden zwei oder drei Babys erwartet, das von Tham mitgerechnet.“
    „Dann hat er drei“, sagte Jes. Er dachte an Tham, der nun Überstunden klopfte, um seine Familie zu unterstützen. „Er ist ganz schön fleißig, was?“
    Taine lachte, und Jes wurde rot; erst jetzt wurde ihm klar, daß man diesen Satz auch mißverstehen konnte. Er nahm einen hastigen Schluck. Taine sah ihn amüsiert an.
    „Warum kann ich eigentlich mit jedem außer mit dir reden?“ sagte er, in seinen Becher starrend.
    Taine stand auf und stellte den Krug weg. Als sie sich zu dem Kühler hinunterbeugte, fiel ihr erneut das Haar ins Gesicht.
    „Vielleicht, weil du dir zuviel Mühe gibst“, sagte sie.
    Das Baby fing an zu weinen. Sie ging hinaus. Jes blieb an der Tür stehen, bis sie mit dem Kind auf dem Arm zurückkehrte. Sie legte es im Wohnzimmer auf ein Sofa und fing an, es zu wickeln.
    „Wie fühlt man sich eigentlich, wenn man immer nur in den Häusern anderer lebt?“ fragte Jes.
    Taine zuckte die Achseln. Sie hatte den Mund voller Klemmen, umwickelte das kleine Hinterteil des Babys fachmännisch mit einer weißen Windel und befestigte sie.
    „Das kommt darauf an“, erwiderte sie und nahm das Baby auf. „Es ist besser, als in gar keinem Haus zu leben.“
    „Ist das die einzige Alternative?“
    Sie sah ihn an, dann gingen sie auf die Veranda hinaus. Jes hielt das Baby auf dem Schoß. Es krabbelte herum, plapperte vor sich hin und besabberte sein Hemd. Taine saß auf dem Geländer.
    „Meine Familie war ziemlich wohlhabend“, sagte sie schließlich in einem Tonfall, als führe sie ein Selbstgespräch. „Du kannst es dir sicher vorstellen: Privatunterricht, jede Menge Kleider und Lakaien, die für alles sorgen. Ich glaube, ich habe mir vorgestellt, es müsse immer so weitergehen: daß ich nur das tun würde, was mir Spaß macht, daß ich alles bekäme, nach dem mir der Sinn steht, und daß immer irgendwelche Leute da sind, die meinen Anweisungen Folge leisten. Und dann fingen die Schwierigkeiten an. Mein Vater verschwand. Kurz darauf wurden meine Mutter und ich in ein Lager gebracht. Zwei Wochen später wurde auch mein Vater dort eingeliefert.“ Sie drehte eine Haarsträhne um ihren Finger und sah Jes unverwandt an. „Meine Mutter war ziemlich hübsch. Am zweiten Tag nahmen sie sie mit. Obwohl mir niemand sagte, wo sie war, konnte ich es mir gut vorstellen. Zu viele hübsche Frauen gab es dort nämlich nicht. Entweder brachte man sie schnell weg, oder sie wurden sehr schnell häßlich. Ich

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