Die Formel der Macht
Telefon, deshalb hinterließ sie auf dem Anrufbeantworter die Bitte, dass Olivia sie so bald wie möglich zurückrufen solle. Um acht Uhr fünfzehn rief sie noch einmal an und hinterließ eine weitere Nachricht. Während sie am Flughafen auf ihre Maschine wartete, versuchte sie es zum dritten Mal. Endlich nahm Olivia ab.
“Ja, Summer, was gibt es?” Ihre Stiefmutter klang so, wie sie immer klang, wenn kein Dritter sie hören konnte – ungeduldig und feindselig.
“Ich fliege in zehn Minuten. Ich habe um vier einen Termin mit dem FBI-Direktor. Ich muss dich irgendwann zwischen meiner Landung und dem Treffen mit Julian Stein sehen. Du kannst dir Zeit und Ort aussuchen, vorausgesetzt, ich kann ihn mit dem Taxi erreichen.”
“Summer, ich bin zu beschäftigt, um mitten am Tag …”
“Glaub mir, das ist ein Termin, den du unbedingt wahrnehmen solltest. Nenn mir Zeit und Ort, Olivia. Mein Flug wird aufgerufen, ich muss los.”
“Das ist lächerlich …”
“Nein, es ist wichtig.”
“Na gut dann. Um halb zwölf im
Primavera
. Es ist in Georgetown, auf der M Street …”
“Ich weiß, wo es ist. Wir sehen uns dort, Olivia. Vergiss es nicht.”
Das
Primavera
war eins der In-Lokale des Jahres für intime hochkarätige Essensverabredungen, wenn man von halb Washington gesehen werden wollte. Es war typisch für Olivias Geltungssucht, dass sie sich selbst bei einer erzwungenen Verabredung mit ihrer verschmähten Stieftochter nicht dazu durchringen konnte, eine weniger prominente Örtlichkeit aufzusuchen.
Summer erreichte das Lokal eine Minute zu früh, und der Maître begrüßte sie angesichts einer vierwöchigen Warteliste mit der gebotenen Gleichgültigkeit.
“Ich habe eine Verabredung mit Olivia Shepherd”, sagte sie. “Wir haben für halb zwölf einen Tisch reserviert.”
“Ah ja,
Signorina.”
Der Maître unterzog seine Manieren einer subtilen Verwandlung. Olivias Stellung an der Spitze der sozialen Pyramide nötigte ihm ein Lächeln und eine kleine Verbeugung ab. “Wenn Sie mir folgen wollen,
Signorina.
Die Frau Minister ist noch nicht eingetroffen, aber vielleicht darf ich Ihnen inzwischen schon ein Glas Wein bringen?”
Frau Minister war ein Titel, der ausschließlich für Amtsinhaberinnen reserviert war, nicht für die Ehefrauen von Amtsinhabern. Summer war belustigt. Sie wettete, dass der Maître das genauso gut wusste wie sie. “Ich möchte nur ein Wasser, danke. Ich habe noch einen langen Nachmittag vor mir.”
“Selbstverständlich,
Signorina.”
Der Maître schnipste mit den Fingern. Wasser und ein Korb mit Brot erschienen mit magischer Geschwindigkeit, aber ihre Stiefmutter folgte nicht. Olivia kam um zwölf, spät genug, um Summer merken zu lassen, welch ein unglaubliches Glück es für sie bedeutete, dass es ihrer Stiefmutter gelungen war, sie mit Mühe und Not noch zwischen zwei Termine zu quetschen.
Olivia, in taubengraues teures Leinen gewandet, setzte sich, dann streifte sie ihre Handschuhe ab und legte sie akkurat auf ihre schmale Kuverthandtasche. Olivias Ikone war Jackie Kennedy, und sie ahmte die Details von deren Garderobe mit beträchtlichem Geschick und einem Gespür für kaum wahrnehmbare Modernisierungen nach. Der Maître betete Olivia oder zumindest ihre soziale Stellung ganz offensichtlich an. Er schmeichelte ihr mit einem diskreten Kompliment über ihre Erscheinung. Zum Dank nannte sie ihn Franco und erkundigte sich nach dem Befinden seiner Frau.
Durch das Restaurant ging ein kleines Summen des Wiedererkennens, als sich die Leute dazu gratulierten, dass sie sich für ein Restaurant entschieden hatten, in dem eine politische Berühmtheit speiste – die einzige Sorte, die in Washington zählte.
Olivia, die sich des Murmelns überdeutlich bewusst war, täuschte größtmögliche Gleichgültigkeit vor. Sie bestellte sich ein
San Pellegrino
und einen gemischten grünen Salat mit Artischocken ohne Dressing. Im Vergleich zu ihren üblichen Lunchgewohnheiten stellten die Artischockenherzen einen leichtsinnigen Kaloriengenuss dar.
Summer, die annahm, dass sie übers Wochenende beim Liebesspiel mit Duncan ein paar Tausend Kalorien verloren hatte, bestellte sich mit Krabben und Käse gefüllte Pilze und quittierte die erhobenen Augenbrauen ihrer Stiefmutter mit einem verbindlichen Lächeln.
Nachdem sich die Entourage aus Maître und Kellnern zurückgezogen hatte, bedachte Olivia ihre Stieftochter mit einem scharfen Blick. “Ich musste meine Verabredung zum Lunch mit
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