Die Formel der Macht

hin, dass sie immer noch irgendwo in der Nähe von New York festgehalten wurde? Möglicherweise, aber nicht unbedingt.
    Die körperlose Stimme befahl: “Lesen Sie den Artikel mit der Überschrift 'Präsident spricht vor den Vereinten Nationen' laut vor.”
    Sie starrte die maskierte Gestalt vor ihr an. “Warum?”
    “Weil Ihr Leben davon abhängt, Miss Shepherd. Halten Sie die Zeitung gut sichtbar vor sich, damit Ihr Vater sieht, dass Sie am neunzehnten Mai noch am Leben waren. Dann fangen Sie an, den Artikel laut vorzulesen.”
    Sie warf die Zeitung auf den Boden und starrte wütend in die Kamera. Dann holte sie aus einer Eingebung heraus tief Luft und schrie so laut sie konnte. Sie hatte einfach keine Lust, sich demütig in ihr Schicksal zu ergeben. Auch wenn sie Angst hatte, würde sie ihren Entführern nicht den Gefallen tun, wie ein dressierter Hund aufs Wort zu gehorchen.
    Die Kidnapper reagierten sofort. Eine der maskierten Gestalten kam zu ihr herüber und schlug ihr mit der flachen Hand so fest ins Gesicht, dass ihr der Schrei im Hals stecken blieb und sie vom Stuhl flog. Der Schlag war so hart, dass sie sofort ohnmächtig wurde.
    Als sie wieder zu sich kam, lag sie immer noch neben dem Stuhl auf dem Boden. Hinter ihren Schläfen hämmerte es, dass sie glaubte, ihr Kopf würde zerspringen. Das hast du nun davon, dachte sie benommen.
    Extrem vorsichtig zog sie sich in eine sitzende Stellung hoch und wartete darauf, dass das Zimmer aufhörte, Macarena zu tanzen. Erst nachdem sie es nach mehreren Anläufen geschafft hatte, aufzustehen, merkte sie, dass sie allein war und dass sich die Entführer nicht die Mühe gemacht hatten, sie wieder zu fesseln. Ihr Herz begann schneller zu klopfen. Vielleicht waren ihre Entführer ja leichtsinnig gewesen. Wenn sie eine Tür fand, konnte sie vielleicht …
    Ihre Fluchtfantasien dauerten weniger als zehn Sekunden. Sie hatte noch keine zwei tastende Schritte nach vorn gemacht, als sie hörte, wie sich hinter ihr die Tür öffnete. Sie wirbelte in dem Moment herum, in dem einer der Entführer neben ihrem Ellbogen auftauchte, während sich ein anderer neben die Videokamera hockte und irgendetwas überprüfte.
    Dieselbe körperlose männliche Stimme sagte: “Setzen Sie sich hin. Wenn Sie wieder schreien, werden Sie es bereuen. Sind Sie jetzt bereit für die Videoaufnahme, Miss Shepherd?”
    “Nein.” Da sie sich nicht sicher war, wer sprach, starrte sie herausfordernd ins Leere. “Ich brauche etwas zu trinken und muss auf die Toilette.”
    “Gut. Aber erst nachdem Sie einen Absatz aus dem Artikel vorgelesen haben.”
    Summer wollte mutig sein. Sie wollte ihren Entführern ihre ganze Verachtung ins Gesicht schleudern. Aber ihr Körper schmerzte, und sie hatte Angst, sich jeden Moment übergeben zu müssen, vor allem jedoch musste sie furchtbar dringend aufs Klo. Deshalb war das Verächtlichste, das sie tun konnte, den Kopf zu senken und zu schweigen.
    “Miss Shepherd, ich verstehe nicht, warum Sie sich einer schlichten Bitte verweigern. Was wollen Sie damit erreichen? Glauben Sie nicht, dass es Ihren Vater beruhigen würde, Ihre Stimme zu hören?”
    Der Mann hatte einen ganz leichten ausländischen Akzent, den man allerdings nur wahrnahm, wenn man sehr genau hinhörte. Summer schaute auf ihre Hände und fragte sich, was ihr Vater wohl in diesem Augenblick fühlte. Was hatten die Entführer für Forderungen gestellt? Sie waren gut organisiert, deshalb mussten sie wissen, dass ihr Vater nicht reich war. Er war finanziell gut gestellt, aber er besaß kein nennenswertes Vermögen, aus dem er eventuelle Lösegeldforderungen hätte bezahlen können. Was den Schluss nahelegte, dass diese Leute hinter etwas anderem her waren als Geld. Etwas, das ihnen sehr wichtig sein musste, da sie bereit schienen, mit einem so hohen Einsatz zu spielen. In Anbetracht der Position ihres Vaters war es wahrscheinlich, dass es etwas mit internationaler Politik zu tun hatte.
    Was angesichts der vielen Spinner und Fanatiker, die herumliefen, kein sehr angenehmer Gedanken war. Und leider bestand so gut wie keine Aussicht, dass ihr Vater tatsächlich in der Lage war, auf die Forderungen einzugehen. Die US-Regierung hatte strenge Grundsätze in Bezug auf Verhandlungen mit Terroristen, und sie würden diese Grundsätze ganz gewiss nicht für sie über Bord werfen, weil absehbar war, dass man damit weiteren Erpressungen Tür und Tor öffnete.
    Na prima, dachte Summer unglücklich. Sie saß bis zum Hals