Die Formel der Macht

hatte.
    “Bis wann?”, fragte Bill Ogilvie.
    “Bis wir zufällig zusammen im selben Zug von Washington D.C. nach New York fuhren”, sagte Summer. “Und bevor Sie fragen, ich habe während der ganzen Reise kein einziges Wort mit Senhor da Pereira gesprochen. Ich habe ihn nur gesehen, das ist alles. Und als ich las, dass er ermordet wurde, wurde mir klar, dass er weniger als zwei Stunden, nachdem ich an der Penn Station ausgestiegen war, ermordet worden sein musste.”
    In der Leitung herrschte einen Moment Stille, bevor Bill Ogilvie sagte: “Ich höre jetzt zum ersten Mal, dass Pereira kurz vor seiner Ermordung mit dem Zug von Washington D.C. nach New York fuhr.”
    Es war Summer nie in den Sinn gekommen, dass sie neue Informationen enthüllen könnte, indem sie erwähnte, dass Fernando da Pereira mit dem Zug nach New York gekommen war. “Sie wollen mir doch sicher nicht erzählen, dass die Polizei nicht weiß, dass da Pereira am Abend vor seiner Ermordung mit dem Zug aus Washington D.C. gekommen war?”
    “Ich habe keine Ahnung, was die Polizei weiß. Bei dieser Untersuchung herrscht allem Anschein nach strengste Diskretion, sodass absolut nichts nach außen durchsickert. Detective Sergeant Callahan ist ein altes Schlachtross. Er versteht es meisterhaft, ellenlange Erklärungen abzugeben, die kein einziges nützliches Wort enthalten, und meine Quellen im Polizeipräsidium, auf die ich mich üblicherweise stütze, schwören, dass sie nicht mehr wissen als ich.”
    “Und was sagen die offiziellen Stellen bisher?”, fragte Summer. “Ich weiß nicht einmal das.”
    “Der Obduktionsbefund hat bestätigt, dass Fernando von mehreren Schüssen in Kopf und Herz getroffen wurde und auf der Stelle tot war. Der leere Servierwagen, den man in seinem Zimmer fand, legt nach Angaben des Polizeisprechers die Vermutung nahe, dass der oder die Mörder sich als Zimmerkellner verkleidet Einlass zu der Suite verschafft haben. Was das Motiv anbelangt, ist die offizielle Version zurzeit, dass der Mord wahrscheinlich von Pereiras politischen Gegnern in Auftrag gegeben wurde.”
    “Das hat Callahan von Anfang an gesagt.”
    “Ja”, stimmte Ogilvie zu. “Es ist auch logisch und sehr wahrscheinlich wahr …”
    “Aber?”
    “Aber ich wäre eher geneigt, es für die ganze Wahrheit zu halten, wenn man nicht so auffällig bemüht wäre, die Medien aus der Sache herauszuhalten.”
    Hat diese Nervosität etwas damit zu tun, dass das FBI und die CIA bereits wissen, dass es zwischen Joe Malone und Fernando da Pereira Familienbande gab?, fragte sich Summer. Falls ja, schienen die Ermittler zu derselben Schlussfolgerung gelangt zu sein wie sie, nämlich, dass zwischen dem Verschwinden von Joe und dem Tod von Fernando möglicherweise ein Zusammenhang bestand. Aber das konnte sie Bill Ogilvie unter keinen Umständen erzählen, denn schließlich hatte man ihr mit Strafverfolgung gedroht, falls sie auch nur ein einziges Wort von allem, was mit ihrer Entführung in Zusammenhang stand, verlauten ließe.
    “Vielleicht rührt die Besorgnis der Polizei, dass nichts durchsickert, ja daher, dass Pereira einer der reichsten und mächtigsten Männer Brasiliens war”, gab sie zu bedenken.
    Ogilvie brummte. “Schon möglich. Aber ich recherchiere jetzt seit über zwanzig Jahren in dieser Stadt über Mordfälle und Verbrechen, und ich rieche es, wenn an einer Sache etwas faul ist. Als Tochter des Außenministers wissen Sie ja bestimmt, dass die Regierung genug Macht hat, um den Deckel auf einer Ermittlung so fest draufzuhalten, dass man sich in der Öffentlichkeit ohne Erlaubnis nicht mal zu niesen traut.”
    Verfügte Olivia über die Macht, den Deckel auf dieser Untersuchung so fest draufzuhalten? Summer glaubte es nicht. Ihre Stiefmutter schwitzte wahrscheinlich Blut und Wasser, dass ihre Affäre mit Fernando da Pereira herauskommen könnte, aber es schien unwahrscheinlich, dass sie irgendetwas beeinflussen konnte, ohne Tatsachen zu enthüllen, die sie ja gerade im Dunkeln lassen wollte. Gordon Shepherd als Minister verfügte über Macht. Seine Frau verfügte nur über soziales Prestige, nicht jedoch über wirkliche Macht, über wen auch immer.
    “Es liegt mir fern, an Ihrer journalistischen Spürnase zu zweifeln”, sagte Summer. “Aber manchmal ist die naheliegendste Erklärung auch die wahre. Vielleicht ist die Polizei ja nur so auf Diskretion bedacht, weil Pereira so einflussreich war und sie die brasilianische Regierung nicht brüskieren