Die Formel der Macht
schreckliche Krankheit zu denken. Es ließ sich leicht schlussfolgern, dass der Orchidee mit den dunkelroten Spitzen eine besondere Bedeutung zukam. Aber was für eine? Leider waren die Folien ohne einen Begleittext praktisch wertlos. Und sie halfen ganz bestimmt nicht zu erklären, warum die Gerechtigkeitsliga sie entführt und Joe an einen unbekannten Ort verschleppt hatte.
Mit einem kurzen Dankeschön schob Summer die Schachtel mit den Farbfolien in ihre Aktenmappe, dann trottete sie zur Subway-Station zurück. Jetzt konnte sie nur hoffen, dass sie nicht den Anruf des Reporters, der über den Mord an Fernando da Pereira berichtete, verpasst hatte, während sie Phantomen hinterhergejagt war. Obwohl, bei dem Glück, das sie zurzeit hatte, konnte sie wahrscheinlich fast darauf wetten.
Sie war pessimistischer, als notwendig gewesen wäre. In dem Moment, in dem sie ihren Schlüssel ins Türschloss schob, begann das Telefon zu klingeln. Sie rannte durchs Wohnzimmer und schnappte sich den Hörer. “Hallo, hier ist Summer Shepherd.”
“Hier ist Bill Ogilvie von der
New York Times.
Rita Marcil hat mir gesagt, dass ich Sie anrufen soll. Sie sagte, Sie hätten etwas im Mordfall da Pereira für mich. Etwas über eine Freundin, die irgendwelche geschäftlichen Beziehungen mit Pereira hatte.”
Sie hätte es wissen müssen, dass Rita die Situation so darstellen würde – dass Summer eine Information hatte und nicht, dass sie eine haben wollte. “Es ist möglich, dass ich ein paar Hinweise habe, denen Sie vielleicht nachgehen könnten”, stimmte sie zu. “Allerdings habe ich auch gehofft, dass Sie Näheres über den Stand der Untersuchung wissen. Ich war ein paar Tage im Krankenhaus, weil ich mir den Blinddarm herausnehmen lassen musste …”
“Das tut mir leid. Ich hoffe, es geht Ihnen wieder gut?”
“Ja, danke. Heutzutage schneiden sie einen ja mit Laser auf, sodass man kaum noch etwas spürt.” Sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie unangebrachtes Mitgefühl weckte, aber das FBI hatte darauf bestanden, dass sie ihre Abwesenheit mit einem medizinischen Notfall erklärte. “Egal, jedenfalls bin ich im Moment nicht auf dem Laufenden, deshalb hatte ich gehofft, dass Sie mir erzählen könnten, ob sich im Mordfall Pereira schon irgendetwas ergeben hat.”
“Darf ich fragen, warum Sie das interessiert? Rita sagte etwas von einer Freundin, die Geschäftsbeziehungen mit …”
“Ja, das stimmt. Senhor da Pereira war ein guter Freund einer sehr guten Freundin von mir. Ich habe ihr versprochen, so viel herauszufinden, wie ich kann.”
“Diese Freundin …”
“Ist derzeit im Ausland. Aber sie ist völlig am Boden zerstört wegen Fernandos Tod, und sie hofft natürlich sehr, zu hören, dass die Polizei bereits einen Verdächtigen festgenommen hat.”
“Hatte sie eine Affäre mit ihm?”, fragte Bill Ogilvie unumwunden.
Summer war gewappnet. “Sie werden bestimmt nicht von mir erwarten, dass ich diese Frage beantworte …”
“Aber ja. Die Polizei glaubt, dass Pereira in seiner Suite mit einer Frau zu Abend essen wollte. Sie tappen noch völlig im Dunkeln, wer diese Frau gewesen sein könnte. Behaupten sie zumindest. Haben Sie vielleicht irgendeine Vermutung, Miss Shepherd?”
“Nicht die geringste”, gab Summer zurück, wobei sie sich ermahnte, unter keinen Umständen der Versuchung nachzugeben, ihre Stiefmutter ins Spiel zu bringen, weil sie damit einen Skandal entfesseln würde, der ihrem Vater womöglich politisch das Genick bräche. Sexskandale waren ein todsicherer Weg, um in den Schlagzeilen zu landen. “Aber dass es meine Freundin nicht war, weiß ich ganz sicher, da sie sich seit drei Wochen in Europa aufhält.” Sie wechselte mit dem Hörer von einer verschwitzten Hand in die andere, gelinde entsetzt darüber, wie leicht ihr die Lügen über die Lippen gingen.
“Hat man ihr auch den Blinddarm rausgenommen?”, fragte Bill Ogilvie trocken.
“Nein!” Summer wurde klar, dass sie vielleicht doch nicht so eine geschickte Lügnerin war, wie sie geglaubt hatte. “Du liebe Güte, wenn Sie damit unterstellen wollen, ich sei Fernandos Geliebte gewesen, sind Sie total auf dem Holzweg! Ich habe den Mann am Freitag vor seinem Tod zum ersten Mal gesehen. Wir haben auf dem Empfang zu Ehren des brasilianischen Außenministers drei Sätze miteinander geredet – höchstens vier. Und dann sah ich ihn nicht mehr, bis …” Sie unterbrach sich abrupt, als sie merkte, dass sie sich verplappert
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