Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)
wir kreuz und quer durch dieses Land reisen können, ohne einen Vietminh zu sehen, obwohl es von ihnen nur so wimmelt, dann heißt das, dass es uns an Informationen fehlt. Und daher tun sie alles, um an Informationen ranzukommen. Sie nehmen Leute fest, verhören sie, legen Karteien an und beseitigen so manchen, eine richtige Industrie. Ich bin einem von ihnen in einer Kleinstadt im Delta begegnet, er trug das gleiche geblümte Buschhemd, die gleiche Knarre in der Hosentasche und schleppte sich verzweifelt dahin wie eine arme Seele. Er war auf der Suche nach Informationen, wie es seine Aufgabe war, aber es kam nichts dabei heraus. Er hatte Verdächtige verhört, Freunde der Verdächtigen, Bekannte von den Freunden der Verdächtigen, und noch immer nichts.«
»Hat er keine Vietminh gefunden?«
»Naja, das weiß man nie so genau, und er wusste das auch nicht. Man kann immer Verdächtige verhören, sie sagen immer irgendetwas, was zu anderen Verdächtigen führt. An Arbeit fehlt es nicht, und sie trägt immer Früchte, egal wie brauchbar das dann ist. Aber was diesen Typen wirklich verzweifeln ließ, diesen Typen von der Polizei in einer Kleinstadt im Delta, war die Tatsache, dass er mindestens hundert Leute beseitigt hatte und dafür weder befördert worden ist noch einen Orden bekommen hat. In Hanoi taten sie so, als gäbe es ihn nicht. Er war verbittert, lief in der Hauptstraße der Kleinstadt auf und ab, ging entmutigt von einem Café zum anderen, wusste nicht mehr, was er tun sollte, und alle Leute, denen er begegnete, senkten den Blick, machten kehrt, gingen vom Bürgersteig hinab, um ihm Platz zu machen oder lächelten ihm zu; die Leute erkundigten sich Kotau machend nach seiner Gesundheit, denn niemand wusste mehr, wie er sich verhalten sollte, ob man mit ihm reden sollte oder nicht, um ihm zu entkommen, ob man so tun sollte, als wäre nichts oder als stände man auf seiner Seite. Und er merkte von alledem nicht das Geringste, er lief mit seiner Pistole in der Tasche durch die Straßen und schimpfte auf die Langsamkeit der Verwaltung, die seine Arbeit nicht anerkannte. Er hatte nie etwas gefunden, aber er war tüchtig; er hatte nie die Spur eines Vietminh gefunden, aber er tat seine Arbeit gewissenhaft; wenn irgendjemand dort eine Untergrundorganisation hätte aufbauen wollen, hätte er das nicht tun können, weil es keine potentiellen Untergrundkämpfer mehr gab, die hatte er alle vorsorglich beseitigt; und trotzdem ließ man ihm nicht die nötige Anerkennung zukommen. Und das hat ihn tödlich gekränkt.«
Moreau beendete den Satz mit einem leisen Kichern, jenem für ihn typischen Kichern, das nicht unangenehm, aber auch nicht witzig war, einem Kichern, das seiner schmalen Nase und seinem dünnen Schnurrbart glich, der seine schmalen Lippen verdoppelte, einem hellen, freudlosen Kichern, das einen erstarren ließ, ohne dass man wusste warum.
»Letztlich ertragen wir das Klima der Kolonien nicht. Wir verschimmeln von innen. Nur du nicht, Salagnon. An dir geht anscheinend alles spurlos vorüber.«
»Ich halte die Augen offen; und auf diese Weise gewöhne ich mich an alles.«
»Auch ich gewöhne mich an alles. Aber genau das beunruhigt mich: Ich passe mich nicht an, ich verändere mich; zu irgendetwas Unwiderruflichem. Ich werde nie mehr derselbe sein.
Bevor ich herkam, war ich Grundschullehrer. Ich war für eine Gruppe von unruhigen kleinen Jungen verantwortlich. Ich habe sie mit großer Strenge erzogen, mit dem Rohrstock, wenn nötig auch mit einer Ohrfeige, sie mussten sich in die Ecke stellen oder sogar auf ein vierkantiges Lineal hinknien. In meiner Klasse wurde nicht randaliert. Sie mussten auswendig lernen, machten keine Fehler, meldeten sich, wenn sie etwas sagen wollten, setzten sich erst hin, wenn ich es ihnen erlaubte, erst nachdem Ruhe eingekehrt war. Ich habe diese Techniken auf der Pädagogischen Hochschule gelernt und zum Teil auch durch Beobachtung. Aber dann brach der Krieg aus und ich habe mich für eine Weile mit anderen Dingen befassen müssen, doch wie sollte ich jetzt wieder in meinen alten Beruf zurückkehren? Wie könnte ich wieder kleine Jungen erziehen? Wie könnte ich die geringste Unordnung ertragen, nach all dem, was ich erlebt habe? Hier untersteht mir ein ganzes Volk, ich setze dieselben Techniken ein, die ich an der PH und durch Beobachtung gelernt habe, nur mit dem Unterschied, dass ich sie für Erwachsene noch konsequenter weiterführe. Und in größerem Rahmen. Hier habe ich
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