Die Frau am Tor (German Edition)
wenn er nun tatsächlich nicht hinging und sie einfach allein ließe mit diesem Problem? Daran wollte er lieber nicht denken. Sie würde ihm wieder nachstellen, ihm auflauern, ihm mit Anrufen zusetzen, ihn in unmögliche Situationen bringen. Und wie sie sich verhalten würde, wenn die Polizei erst dahinterkäme, dass sie Oliver Rensing erstochen hatte, womit ja jederzeit zu rechnen war – das mochte er sich überhaupt nicht ausmalen.
Er tastete nach dem Wecker, stellte fest, dass es inzwischen fast fünf Uhr war, stand auf, kochte sich einen Tee, den er extra lange ziehen ließ, trank ihn und legte sich wieder hin. Aber es war zwecklos, an Schlaf war gar nicht zu denken. Er duschte, zog sich an und unternahm einen zweistündigen Spaziergang, der ihn bis jenseits des ehemaligen Grenzstreifens führte. Es tat gut, die frische Luft des frühen Morgens in seinen Lungen und in seinem Gesicht zu spüren. Auf dem Rückweg kaufte er Brötchen, aus denen er sich normalerweise nicht viel machte. Und beim Frühstück sagte er sich, was er sich in den letzten Tagen schon mehr als einmal gesagt hatte: Mensch, Kessler, nun behalte mal die Nerven. Du hast doch schon so manches überstanden. Lass es auf dich zukommen und verlass dich auf deine Improvisationsgabe, dir wird im entscheidenden Moment schon noch das Richtige einfallen.
Um kurz nach elf kam ihr Anruf.
“ Mensch, wo bleibst du denn? Du hast mir doch versprochen, zu kommen. Ich vergehe hier fast vor Angst.”
“ Nun mal langsam, du hast gesagt, mittags. Bis dahin ist ja noch ein Weilchen hin”, erwiderte er schroff.
“ Aber ich halte das nicht aus, hier allein zu sitzen und zu warten. Kann ich nicht zu dir kommen? Ich habe mir überlegt, dass ich ja auch die Rufumleitung einschalten und den Anruf auf mein Handy legen kann, und dann könnten wir es bei dir.....”
“ Auf gar keinen Fall, das ist völlig unmöglich”, fiel er ihr energisch ins Wort und dachte nur: bloß das nicht. “Bleib, wo du bist. Ich beeile mich ja schon.”
Seinen Wagen ließ er stehen, aber er ging mit strammen Schritten und stand nach einer knappen Viertelstunde vor ihrer Haustür. Er musste mehrmals die Klingel drücken, bis sie öffnete. Sie hatte ein Glas Wasser in der Hand und erklärte ihm, sie habe gerade erst noch einmal etwas zur Beruhigung nehmen müssen.
“ Ein Glück, dass du da bist. Ich fahre dauernd zusammen und meine das Telefon läuten zu hören. Und als du angeläutet hast, konnte ich mich vor Schreck kaum rühren, weil ich zuerst dachte, jetzt ist es so weit. Ich wage fast gar nicht, dorthin zu schauen.”
Sie wies auf den Apparat, der auf einem Tischchen in der Diele stand und den er bis dahin nie beachtet hatte. Es handelte sich um eine kompliziertere Anlage als seine eigene, mit Drucktasten und verschiedenen Sonderfunktionen.
“ Was machen wir denn jetzt so lange?”, fragte sie nervös, lief in der Diele auf und ab und knetete ihre Hände.
“ Nun reiß dich doch bitte mal ein bisschen zusammen. Das ist ja schrecklich, wie du dich aufführst”, sagte er, und es klang genau so ruppig, wie er es beabsichtigt hatte.
Wenigstens bot sie nicht solch einen desolaten Anblick wie beim letzten Mal. In ihren weißen Jeans und dem schwarzen Seidentopp sowie mit leichtem Rouge im Gesicht und dem glänzenden, locker fallenden Haar wirkte sie rein äußerlich genau so attraktiv, wie sie sich ihm bis vor kurzem noch stets präsentiert hatte. Doch er empfand mittlerweile kaum noch etwas bei ihrem Anblick, jedenfalls nichts mehr, was nennenswerte Ähnlichkeit mit Begehren gehabt hätte. Es spielte keine Rolle mehr. Er musste selbst staunen, mit welcher Kühle er sie betrachten konnte, zumindest jetzt, in diesem Moment.
Er ging an ihr vorbei in das gemütlichere der beiden Wohnzimmer und setzte sich in einen der Sessel.
“ Meinst du, es würde etwas nützen, wenn du dauernd dort herumläufst?”, rief er zu ihr hinüber. “Setz dich doch auch mal einen Moment hin, statt dauernd herumzurennen und dich immer noch verrückter zu machen.”
“ Ach du, du verstehst doch gar nicht, wie mir zumute ist, wie ich mich fühle”, hörte er sie jammern. “Du, du bist immer so entsetzlich vernünftig, so, so.....”
Das Telefon unterbrach sie.
“ Schnell, komm her!”, schrie sie auf und nahm erst ab, als er neben ihr war. Sie drückte die Taste, um ihn mithören zu lassen.
“ Hallo? Hallo, Julia?”, fragte eine Männerstimme, während sie erst schweigend den Hörer
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