Die Frau an Seiner Seite
tatsächlich gewusst? Wusste sie, dass er sich nicht nur aus Opportunismus und Karrieregründen, sondern auch und vor allem aus politischer Überzeugung bewusst in den Dienst der Nazis gestellt hatte und nicht nur Mitwisser, sondern auch Mittäter gewesen war? Woher hatte die Tochter die oft geäußerte Überzeugung, er sei nur ein unpolitischer Spezialist gewesen, der mit Politik niemals mehr etwas zu tun haben wollte? War er nach juristischer Bewertung nicht viel eher ein Täter, auch wenn er niemals verurteilt wurde? Gehörte er als Direktor eines NS-Musterbetriebs nicht vielmehr zu Hitlers willfährigen Helfern? Wie hat er es nach 1945 geschafft, seine NS-Belastung zu vertuschen und mit Erfolg Spuren zu verwischen? Hat Hannelore bewusst die Legendenbildung und das Verschweigen mitbekommen oder hat selbst sie nie etwas darüber erfahren? All das sind Fragen, die sich heute nicht mehr beantworten lassen. Es scheint, als habe auch im Hause Renner wie in Millionen anderen Familien nach dem Krieg tiefe Verunsicherung geherrscht, als sei das Schweigen über mögliche Verstrickungen oberstes Gebot gewesen. Alle Anzeichen sprechen dafür, dass beim Thema Vergangenheitsbewältigung eine jahrelange Sprachlosigkeit zwischen Hannelore und ihren Eltern herrschte.
PFLICHT
Für Hannelore war der plötzliche Tod des Vaters ein tiefer Einschnitt. Sie verlor ihren engsten Vertrauten, ihr Vorbild, ihren verlässlichsten Beschützer und sicheren Halt im Leben. Der neuerliche Schicksalsschlag machte den beiden Hinterbliebenen schwer zu schaffen. Hinzu kam das Unvermögen der vierundfünfzigjährigen Mutter, mit der neuen Situation fertig zu werden. Irene Renner, sieht man von ihrer Kriegsverpflichtung ab, war nicht an ernsthaftes Arbeiten gewöhnt, war immer die Frau an seiner Seite gewesen, privilegiert und verwöhnt, bis der Krieg ihr sorgenfreies Leben zerstört hatte. Nach dem Tod ihres Mannes war sie wohl völlig überfordert damit, ihre eigene Existenz und die ihrer Tochter zu sichern. Denn neben dem Schmerz über den Verlust eines geliebten Menschen kam ein materiell harter Schlag hinzu: Es gab keine Versorgungsansprüche, keine Witwenrente, nichts, absolut nichts.
Psychisch auf einem absoluten Tiefpunkt angelangt und physisch ohnehin angegriffen, brach Hannelore ihr Studium an der Germersheimer Dolmetscherschule ab. Sie musste Geld verdienen, um ihre Mutter und sich zu ernähren. Das Kind der Nazi-Eltern, das Flüchtlingskind, die stolze Gymnasiastin, die wissbegierige Studentin, das geschätzte Au-pair-Mädchen: Seit der Evakuierung nach Döbeln hatte Hannelore ihren Beitrag leisten müssen – und sei es, dass sie lernte, Essen zu organisieren. Immer ging es um die Sicherung der Existenz. Hannelores späte Kindheit und Jugend waren, wie bei Millionen anderen auch, kriegsbedingt geprägt vom ständigen Kampf ums Überleben. Jetzt musste sie auch noch ihren Vater ersetzen und auf eine Ausbildung verzichten. Das Gefühl, zu kurz zu kommen, ließ sie nicht mehr los. All ihre Talente, ihre naturwissenschaftlichen und sprachlichen Begabungen lagen brach, weil sie eine folgenschwere Kehrtwendung in ihrem Leben vollziehen musste.
Nachdem sie mitten im zweiten Semester das Sprachstudium abgebrochen hatte, jobbte sie vorübergehend im Stuttgarter Konradin-Verlag, redigierte Manuskripte und las Korrektur. Mit ihrem bescheidenen Gehalt musste sie nicht nur die Miete für die kleine Zwei-Zimmer-Wohnung in Leinfelden stemmen, sondern auch für den Unterhalt der Mutter sorgen. Ein Schicksal, das sich in dieser Zeit tausendfach wiederholte, für die Betroffenen aber das Ende aller Träume bedeutete.
Hannelore war nach dem Tod ihres Vaters klar, dass sie einen ganz neuen Weg einschlagen musste. Ein glänzendes Abitur ohne eine anschließende berufliche Ausbildung reichte nicht aus, sie musste sich fortbilden. Da ihre Mutter und sie nicht im Raum Stuttgart bleiben wollten, sollte ein Umzug nach Ludwigshafen auch einen beruflichen Neuanfang ermöglichen. Kurz nachdem die beiden Frauen Ende April 1953 in die Ludwigshafener Achenbachstraße 24 umgezogen waren, legte Hannelore die Handelskammerprüfung im englischen und französischen Stenografieren ab. Damit hatte sie zumindest ein erstes Zertifikat, das mehr wert war als der Nachweis eines abgebrochenen Dolmetscherstudiums. Mit dieser »Ausbildung« bewarb sie sich erfolgreich bei der Ludwigshafener BASF (Badische Anilin- & Soda-Fabrik) und trat am 15. Juni 1953 als kaufmännische
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