Die Frau des Apothekers - Sandmann, C: Frau des Apothekers
gesagt haben, aber ich glaube nicht, dass er seine Meinung
ändert.«
Der Anwalt behielt recht. Frederick weigerte sich strikt, Louise im Gefängnis zu empfangen; er wollte nicht einmal Briefkontakt
zu ihr halten.
Nach nur wenigen Wochen war Louise einem Zusammenbruch nahe. Ihr schien es, als hätte ein feindseliger Dämon miteinem einzigen Griff alles geraubt, was ihr Leben lebenswert gemacht hatte. Verbissen stürzte sie sich in die Arbeit, die
jetzt ihr einziger Halt war. Sie kam im Morgengrauen, um die Lieferanten zu empfangen, und blieb, bis der Magister als Letzter
die Apotheke verließ. In diesen Tagen, in denen Louise sich von allen Seiten bedroht fühlte, wurde er ihr in seiner stillen,
zurückhaltenden Art eine Stütze und ein Kampfgefährte. Unmerklich rückten sie zusammen – zwei Menschen, denen die Apotheke
über alles ging. Louise saß oft noch am Abend nach Ladenschluss mit ihm beisammen und ließ sich die Einkäufe erklären oder
sah ihm bei der Zubereitung von Rezepten über die Schulter. Einmal ging es ihr durch den Kopf, wie nahe sie einander in diesen
Stunden wohl gekommen wären, wäre es eben nicht Sigmund Schlesinger gewesen, der so eng mit ihr zusammenarbeitete, ein Mann
hinter einem Panzer aus Eis. Es gab keine Geste der Zuneigung, ja noch nicht einmal ein Wort der Ermutigung oder des Trostes.
Dennoch spürte sie, dass er ihr dieselbe heimliche Zuwendung entgegenbrachte wie früher ihrem Gatten.
Er bezog sie immer häufiger in seine Arbeit ein, legte ihr die Einkaufslisten vor und bat sie, ihn zu begleiten, wenn er in
seinem Einspänner zum Großhändler in die Speicherstadt fuhr, um die frisch gelieferten Waren aus Übersee in Augenschein zu
nehmen. Dort, inmitten all der roten Klinkergebäude, kauften sie Gewürze aus aller Herren Länder, Tabak, Safran, Chinarinde,
Sassafras, das ostindische Harz, das auch »Drachenblut« genannt wurde, und andere Spezereien, dazu die edlen Sorten von Kaffee,
Tee und Kakao. Bei all den Menschen schien es Louise manchmal gerade so, als drängte sich die gesamte Bevölkerung Hamburgs
in den Warenspeichern – immerhin rund eine Million.
Die Stadt platzte aus allen Nähten. Wie ein gefräßiges Ungeheuer verschlang sie nach und nach die Dörfer an ihren Grenzen,
ja ganze Städte wie Altona, das ihr beinahe einmal den Rang als »Tor zur Welt« abgelaufen hätte. Es war etwas Grandioses,
aber auch Beängstigendes an der Gier, mit der Hamburg sich aufblähte, an den unzähligen Schiffen, den bis an die Decke gefüllten
Warenspeichern, den prächtigen Boulevards. Es war eine Stadt der Reichen, der Händler, der Wechsler und Wucherer, aber zugleich
eine Stadt, deren Reichtum zu einem beträchtlichen Teil in die Wohltätigkeit floss.
Seit dem Jahre 1227, als die erste gemeinnützige Stiftung – das Heiligen-Geist-Spital – in der Stadtchronik verzeichnet worden
war, waren unzählige gefolgt. Die reichen Wohltäter wetteiferten geradezu miteinander, wer einen noch höheren Beitrag zum
Gemeinwohl leistete. Jeder ließ sich, seinen Kenntnissen und Vorlieben gemäß, etwas einfallen, um seinen Mitmenschen nützlich
zu sein. Die einen übernahmen Verantwortung für Kranke und Schwache, andere förderten die Wissenschaften, vor allem die Medizin,
kunstsinnige Bürger sponserten Museen und Galerien, wieder andere engagierten sich für Hygiene und Gesundheitsvorsorge. Louise
nahm sich vor, ebenfalls eine Stiftung zu gründen, sobald sie sich in ihrer neuen – zugegebenermaßen etwas trostlosen – Welt
zurechtgefunden haben würde. Sie hatte sich zum Ziel gesetzt, eine kurze pharmazeutische Ausbildung allen Frauen in Hamburg
zugänglich zu machen, die sich dafür interessierten. Wenn Frauen schon keine Apothekerinnen werden konnten, so durften sie
immerhin lernen, was sie als Hausfrauen und Mütter brauchten, um pharmazeutische Kenntnisse in die Hauskrankenpflege einzubringen.
5
Nach außen hin zeigte Louise sich stolz und gefasst. Sie weinte nicht, aber ihr Körper litt genauso wie ihre Seele. Die Empfindlichkeit,
die sie schon während des Kummers um Raouls Tod gespürt hatte, quälte sie von Neuem. Sie erbrach häufig und litt unter ständigen
Schmerzen, deren Ursache sie im Magen vermutete. Aber das war ein Irrtum.
Zwei Wochen, nachdem das Urteil über ihren Geliebten gefällt worden war, wurde ihr klar, dass sie die Zukunft zweier Menschen
planen musste. Frederick war aus ihrem Leben
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