Die Frau des Apothekers - Sandmann, C: Frau des Apothekers
»So wild wird es schon nicht sein. Außerdem ist es erst kurz nach Mittag, was soll uns da schon
passieren? Und wir haben doch drei starke Männer dabei, die auf uns aufpassen, right?«
Dr. Taffert, der den Widerspruchsgeist seiner Klientin wohl zur Genüge kannte, erklärte, er würde beim zuständigen Revier anrufen
und ersuchen, man möge einen Wachmann mitschicken.
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Louise wickelte sich eng in ihren Umhang, zog die Kapuze tief ins Gesicht und hoffte, niemand von ihren Begleitern würde bemerken,
welcher Schauder sie angesichts dieser Expedition erfüllte. In dem Asyl für Cholerawaisen, in dem sie ihre Jugend verbracht
hatte, waren auch viele Kinder aus dem Gängeviertel, denn dort hatte die Seuche am schlimmsten gewütet. So bedauernswert diese
Kinder waren, sie waren auch verwahrlost, grob und sittenlos. Die Mädchen, kaum dem zartesten Kindesalter entwachsen, waren
schon halbe Dirnen, die Knaben Verbrecher. Louise, die aus einem kultivierten kleinbürgerlichen Haushalt stammte, war ihnen
voll Angst aus dem Weg gegangen. Ihre Bereitschaft, den Apotheker zu heiraten, war zu einem nicht geringen Teil der Furcht
entstammt, ihr weiteres Leben unter solchen Menschen verbringen zu müssen.
Raoul hatte ihr erklärt, dass bei den entsetzlichen Lebensbedingungen in diesem Viertel aus den Kindern nichts Besseres werden
könne, aber obwohl sie ihm äußerlich zustimmte, zweifelte sie innerlich daran. Und als jetzt der widerwillige Kutscher sein
Gefährt vor dem Polizeiposten anhielt und erklärte, wer noch weiter in den Rattenbau hineinwolle, müsse zu Fuß gehen, wallte
der halb vergessene Abscheu mit voller Kraft in ihr auf.
Es war kein unbegründeter Abscheu. Das Gängeviertel war größtenteils mit altersschwachen Fachwerkhäusern bebaut, deren Wohnungen
nur durch schmale Straßen, verwinkelte Hinterhöfe, Torwege und die namensgebenden Gänge zwischen den Häusern zu erreichen
waren. Ein Verkehr mitFuhrwerken oder Karren war hier kaum möglich, und die Bewohner wurden entweder von Wasserträgern mit Trinkwasser versorgt
oder schöpften ihren täglichen Bedarf direkt aus den Fleeten. Alles strotzte von Schmutz aller Art an Wänden, Fenstern und
Böden. Robert Koch hatte anlässlich der Choleraepidemie von 1892 voll Zorn und Entsetzen an den Kaiser geschrieben: »Eure
Hoheit, ich vergesse, dass ich in Europa bin. Ich habe noch nie solche ungesunden Wohnungen, Pesthöhlen und Brutstätten für
jeden Ansteckungskeim angetroffen wie hier.« Und als die fünf jetzt das Gewirr von Gassen, Hinterhöfen und halsbrecherisch
steilen Hühnertreppen betraten, sah Louise die Meinung des berühmten Arztes auf Schritt und Tritt bestätigt.
Die Stadtväter hatten durchaus eingesehen, dass das so nicht weitergehen konnte, und hatten bereits 1883 Anordnung gegeben, das zur Altstadt gehörende Elendsquartier auf dem Großen Grasbrook abzureißen. Dabei hatten sie freilich
den Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben, denn jene 24 000 Menschen, die dabei ersatzlos ihre Wohnungen verloren, mussten sich eine neue Bleibe in dem ohnehin überbelegten Gängeviertel
der Alt- oder der Neustadt suchen, sodass sich die Verhältnisse letztendlich noch verschlimmerten.
Ein Wachmann in Uniform, den Säbel an der Seite, begleitete die Gruppe um Louise Paquin – eine empfehlenswerte Vorsichtsmaßnahme.
Eine steile, mit Katzenkopfsteinen gepflasterte Gasse hinab führte ihr Weg sie in eine enge Passage mit hohen Häusern zu beiden
Seiten. Louise rümpfte die Nase, als sie den säuerlichen Geruch wahrnahm, der in der Luft hing. In diesen krummen Gebäuden,
die sich oberhalb der Gasse aneinanderzulehnen schienen, war links und rechts Wohnung über Wohnung getürmt, eine schob sich
in dieandere, sie waren zum Ersticken eng neben- und ineinandergeschachtelt. Ein noch üblerer Gestank quoll aus den Gossen und erfüllte
die enge Straße, an deren Wänden sich eine Welle bösartigen Lärms brach. Schelten, Streiten, Kinderweinen, die lauten Rufe
der Wasserträger, das Gefiedel eines Bettelmannes, der bei seinesgleichen bettelte, die hallenden Rufe herumziehender Händler,
alles mischte sich so gräulich durcheinander wie die Gerüche nach Fäkalien, Kohlsuppe, Fisch und ungewaschenen Menschen. Die
Bewohner konnten einander in die Fenster sehen, denn es gab keine Vorhänge oder Fensterläden. Dieses Leben unter den Augen
aller anderen schien sie aber keineswegs zu stören. Im
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