Die Frau des Praesidenten - Roman
ich einen aufgebrachten Ausdruck in seinem Gesicht.
»Möchtest du, dass ich gehe?«, fragte ich.
»Das wäre keine schlechte Idee.«
Ich stand auf und brachte mit zittrigen Händen meinen Teller in die Küche. Waren wir noch verlobt? Waren wir überhaupt noch zusammen? Da wir niemandem von unserer Verlobung erzählt hatten, müssten wir auch niemandem sagen, dass wir sie wieder gelöst hatten. Vielleicht hatte diese Beziehung von Anfang an etwas Nebulöses umgeben, etwas Unwirkliches. Wir würden die Sache beenden, und es gäbe nichts zu erklären. Und wenn mich jemand darauf ansprechen würde, könnte ich einfach sagen, es hätte nicht funktioniert.
Auf der Fahrt zu meiner Wohnung dachte ich, dass es vielleicht besser so war. Wollte ich meine Unabhängigkeit wirklichgegen die Rolle einer fahnenschwingenden Unterstützerin tauschen? Warum sollte ich mein Leben dem Anhören von Reden, wie der im Lions Club in Waupun, widmen? Von der Frage, ob ich mit seiner politischen Linie übereinstimmte, mal ganz abgesehen, waren diese Reden einfach nur langweilig. Diese ständigen Wiederholungen, der schmeichlerische Unterton, der selbstgerechte Hohn und die geheuchelte Klarheit – sie waren in gleichem Maße verlogen und lächerlich, wie sie vorgaben, aufrichtig und bedeutend zu klingen. Und Charlie erwartete von mir, dass ich seine Beteiligung in dieser Art nicht nur tolerierte, sondern auch noch Beifall klatschte? Würde ich etwa von ihm erwarten, sich in die Bücherei zu setzen und mir zuzuhören, wie ich
Fränzi mag gern Marmelade
vorlas?
Mit diesen Gedanken quälte ich mich über zwei Stunden lang. Ich lag auf dem Bett, las
Humboldts Vermächtnis
, und als ich auf Seite 402 mitten in einem Absatz aufsah, löste sich meine Überzeugung mit einem Schlag in Luft auf, und zurück blieb eine erdrückende, hartnäckige Schwere. Worüber Charlie und ich uns gestritten hatten, erschien mir mit einem Mal so gegenstands- und bedeutungslos. Ich konnte mich schon kaum mehr an die Worte erinnern, die gefallen waren, wollte einfach nur neben ihm sitzen, unter ihm liegen, meine Arme um ihn schlingen und seine Arme um mich spüren. Er war genau das Gegenteil von verschwommen; alles andere lag im Nebel, während er klar umrissen im Vordergrund stand. Der Gedanke, dass wir uns getrennt haben könnten, war niederschmetternd; es war unerträglich.
Ich zwang mich, ihn nicht anzurufen – es war besser, damit bis morgen zu warten. Ich konnte nicht davon ausgehen, dass seine Wut den gleichen zeitlichen Verlauf genommen hatte wie meine, dass er mir bereits vergeben hatte, so wie ich ihm. Und dennoch war mein Bedürfnis nach einem klärenden Gespräch derart groß, dass ich das Risiko, ihn anzurufen, vielleicht doch eingehen sollte. Ich ging ins Bad, wusch mir das Gesicht und putzte mir die Zähne, dann zupfte ich meine Augenbrauen, nur um mich irgendwie zu beschäftigen. Zurück im Schlafzimmer schlüpfte ich in mein ärmelloses Baumwollnachthemd.Mittlerweile war es zwanzig nach zehn, und ich beschloss, ihn nicht vor elf anzurufen. Ich nahm mir den Anruf nicht fest vor, sondern ließ die Möglichkeit offen; sollte ich mich zurückhalten können, würde ich ihn nicht anrufen, sollte ich mich jedoch nicht zurückhalten können, würde ich mir um elf überlegen, was ich ihm sagen wollte.
Ich ließ das Licht brennen und legte mich auf die Seite. Durch das geöffnete Fenster wehte warm der Wind herein, und ich versuchte, nicht zu weinen. Was machte es schon, mir die nächsten fünfzig Jahre Reden über Steuern anzuhören? Vielleicht könnte ich lernen, ein Buch so in meiner Handtasche zu halten, dass mich niemand beim Lesen ertappen würde. Nein, Charlies Frau zu werden würde keine Einschränkung bedeuten; in seiner Gegenwart war mein Leben so viel ausgefüllter, aufregender, lustiger und so voller Möglichkeiten. Ich war nie ein Mensch gewesen, der das Leben als ein einziges Abenteuer verstand. Für mich bestand es vielmehr aus aufeinanderfolgenden Verpflichtungen, von denen manche dankbar waren, bei anderen biss man eben die Zähne zusammen. Doch hier bot sich mir nun das ganz große Glück. Vor mir stand mein persönlicher Reiseführer durch das Land des Glücks, und ich hielt ihn auf Abstand, so, wie ich damals Andrew Imhof auf Abstand gehalten hatte. Was war nur los mit mir?
Ich sprang regelrecht auf, lief in die Küche, nahm den Telefonhörer ab und begann zu wählen, als es plötzlich an der Tür klingelte. Ich rannte nach unten,
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