Die Frau des Praesidenten - Roman
immer). Auf dem Weg ins Schlafzimmer zog ich den gelben Gummihandschuh von meiner rechten Hand, und als ich den Hörer abgenommen hatte, hörte ich Lars Enderstraisse sagen: »Alice, es tut mir so leid, dass ich derjenige sein muss, der dich anruft …«
Sofort blieb mir fast das Herz stehen; es hing bewegungslos in meiner Brust, und dann quetschte ich die Worte hervor: »Mom?«, und er sagte: »Nein, nein, nicht Dorothy. Es geht um Emilie. Sie ist gestürzt, und sie hatte innere Blutungen, eine Blutung im Gehirn, deshalb sind wir jetzt im Lutheran Hospital.« Es war dasselbe Krankenhaus, in dem ich geboren worden war, und auch das, in das Andrew Imhof und ich an jenem schrecklichen Abend im September 1963 gebracht worden waren.
»Aber sie ist nicht …« Ich stockte. »Sie lebt doch?«
»Sie ist nicht bei Bewusstsein, aber die Ärzte geben ihr Bestes. Deine Mutter redet gerade mit einem von ihnen. Sie und ich sind hier in einem Warteraum vor der Intensivstation, und wir hoffen, dass wir sie bald …«
»Granny ist auf der Intensivstation?«
»Sie ist ja nicht mehr die Jüngste, und da gehen sie auf Nummer sicher.«
»Ich komme, so schnell ich kann.«
Es war am späten Vormittag passiert, ohne erkennbaren Grund – sie war auf dem Weg vom Ess- ins Wohnzimmer irgendwie auf dem Boden gelandet und hatte das Bewusstsein verloren –, und die Ärzte versuchten vor allem herauszufinden, ob die Hirnblutung eine Folge des Sturzes gewesen war oder ob die Blutung den Sturz verursacht hatte. Meine Mutter hatte sie fallen gehört, und es war nicht einmal laut gewesen, »wie wenn die Post eingeworfen wird«, hatte sie gesagt. Sie war sofort hingeeilt und hatte meine Großmutter auf dem Boden liegen sehen. Meine Mutter hatte sich erfolglos bemüht, sie wieder zu Bewusstsein zu bringen, und dann einen Krankenwagen gerufen.
Im Krankenhaus entschuldigte sich meine Mutter immer wieder bei mir, als sei alles ihre Schuld. »Es tut mir so leid, dass du so überstürzt herkommen musstest«, sagte sie.
»Mom, das ist doch selbstverständlich.«
Irgendwann am späten Nachmittag holte Lars vom Shop auf der gegenüberliegenden Straßenseite eine Schachtel Kekse, die weder meine Mutter noch ich anrührten, bis er sie schließlich an die anderen Leute im Warteraum verteilte. Im Fernseher in der Ecke liefen Seifenopern und Talkshows, und obwohl niemand zusah, schien sich auch niemand herausnehmen zu wollen, ihn abzuschalten. Die Werbespots mit ihren exaltierten Sprechern und aufdringlichen Melodien wirkten besonders unpassend.
Von einem Münztelefon im Warteraum aus hatte ich Charlie angerufen und dann Jadey gebeten, Ella von der Schule abzuholen, und ein paar Stunden später hatte ich noch einmal bei Jadey angerufen, um Ella zu erklären, was passiert war. Ich hatte gehofft, der Klang meiner Stimme würde sie beruhigen, aber stattdessen war es
ihre
Stimme, die
mich
aus der Fassung brachte. Ich wünschte mir so sehr, bei ihr zu sein und sie inden Arm zu nehmen, dass ich meine Tränen zurückhalten musste. Mit ihrer kindlich ernsten Stimme sagte sie: »Muss Granny jetzt sterben?« Ella nannte meine Großmutter Granny, genau wie ich; zu meiner Mutter sagte sie Grandma, und Lars (den meine Mutter 1981 in aller Stille geheiratet hatte) hieß für sie Papa Lars.
»Ich hoffe nicht, Liebes«, sagte ich.
Gegen fünf Uhr meldete ich mich noch einmal in Charlies Büro. »Ich bin immer noch hier, und es gibt keine wirklichen Neuigkeiten«, sagte ich. »Würdest du Ella abholen?«
»Meinst du, Jadey hätte was dagegen, sie ein bisschen länger dazubehalten? Ich bin um halb sechs mit Stuey Patrickson zum Squash verabredet.«
Von der Zimmerecke aus, in der das Münztelefon hing, sah ich mich im Warteraum um: Ein junger Mann hielt eine Hand über die Augen, um sich auszuruhen oder weil er weinte; ein Kind ließ einen Spielzeuglaster auf dem Teppich hin- und herfahren; meine Mutter las in einer monatealten Ausgabe der
McCall’s
, und Lars Enderstraisse saß neben ihr und aß noch einen Keks. (Ich hatte ihn nie als
meinen Stiefvater
betrachtet. Nicht dass ich ihn nicht gemocht hätte – ich hatte ganz im Gegenteil eine große Zuneigung zu ihm entwickelt, und zu meiner Überraschung galt dasselbe für meine Großmutter. Sie hatte ihm Scrabble beigebracht, und er war besonders gut bei den schwierigen Zwei-Buchstaben-Wörtern, so dass er sich im Laufe der Zeit zu einem viel stärkeren Gegner für sie entwickelt hatte als meine Mutter. Aber eine
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