Die Frau des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
verstummte, fing Walther an zu übersetzen, was er meinte verstanden zu haben.
»Sie ist nicht verrückt, Thiderich«, sagte er freudestrahlend in dessen Richtung.
»Ist sie nicht?«, fragte Thiderich ungläubig. »Na, da bin ich ja mal gespannt.«
Walther hörte gar nicht auf die spöttischen Worte und fuhr fort. »Du wirst es nicht glauben. Sie hat mir erzählt, dass sie vor einiger Zeit einen Mann am Strand entdeckt hat. Zunächst hielt sie ihn für tot, doch dann sah sie, dass er noch atmete. Da sie ihn nicht tragen konnte, brachte sie ihm Wasser und etwas zu essen. Zwei Tage lag er dort. Sie deckte ihn mit allem möglichen Gestrüpp zu, das sie fand, und hielt ihn warm. Am dritten Tage dann kam sie erneut zu ihm, diesmal in Begleitung zweier Männer aus dem Dorf. Diese Männer trugen ihn zu ihrer Hütte.«
Thiderich zog eine Augenbraue hoch und schaute Walther an, als sei er nicht ganz bei Sinnen. »Du hast recht, ich glaube es nicht, Walther. Wenn es so war, wo ist dieser Mann dann? Und warum lebt sie hier allein in dieser Hütte? Ich bin noch immer davon überzeugt, dass die Frau verrückt ist und sich etwas ausdenkt …«
»Nun höre doch zu«, befahl Walther fahrig. »Sie hat noch weit mehr erzählt. Zum Beispiel, dass sie sonst niemals in das Dorf gehen würde, weil die Bewohner sie fürchteten. Als junges Mädchen hatte es angefangen. Sie hatte Eingebungen. Es waren Wachträume, die sich hinterher stets bewahrheiteten. Anfänglich hat sie versucht, den Dorfbewohnern davon zu berichten und sie zu warnen, wenn Unheil drohte. Doch statt ihr dankbar zu sein, jagten sie sie fort. Mit dem Teufel soll sie im Bunde sein, hatte ein Geistlicher ihr unterstellt. Erst seitdem wohnt sie hier allein und bleibt es auch die meiste Zeit.«
Thiderich konnte Walthers Aufregung nicht teilen. »Das ist in der Tat eine traurige Geschichte, doch beweist sie noch lange nicht, dass irgendetwas von dem, was die Frau erzählt, wahr ist.«
»Aber jetzt überleg doch mal, Thiderich!«, fuhr Walther seinen Begleiter plötzlich an und schüttelte dessen Schultern. »Das passt doch zum Verhalten der Bewohner Aldessens. Sie wollten uns keine Auskunft geben, weil sie die alte Frau fürchten!«
Zum ersten Mal war in Thiderichs Blick etwas anderes zu lesen als Hohn und Spott. Konnte es wirklich stimmen, was die Frau erzählte?
Walther fuhr unterdessen fort. »Wenn ich sie richtig verstanden habe, dann hatte sie, lange bevor sie den Mann am Strand fand, von ihm geträumt. Sie war vorbereitet gewesen, wie sie sagt – auch auf den darauffolgenden Besuch.«
»Was für ein Besuch?«, fragte Thiderich nun weit interessierter.
»Es waren Fremde, die den angespülten Mann holen wollten. Die Frau sagt, sie habe auch von ihnen geträumt. Sie kann wohl nicht sagen, zu welcher Zeit sich ihre Eingebungen bewahrheiten, doch geirrt habe sie sich bisher noch nie. Bevor die Männer kamen, hat sie versucht, den Kranken zu warnen, doch der fremde Mann verstand sie nicht. Sie konnte kein einziges Wort mit ihm reden; aber im Schlaf sprach er wohl in deiner Sprache, Thiderich. Deshalb hat sie eben mit dem Finger auf dich gezeigt.«
Thiderich verstummte. So langsam glaubte auch er, dass etwas Wahres an dem sein konnte, was die Frau sagte.
Walther hingegen war schon längst davon überzeugt, endlich eine Spur aufgetan zu haben. »Eines Tages kamen tatsächlich drei Bauern mit vier Pferden. Sie traten in die Hütte, packten den Angespülten, setzten ihn auf das freie Pferd und ritten davon. Und obwohl sie der Alten nicht gesagt hatten, wohin sie reiten würden, weiß sie trotzdem, dass ihr Ziel Blexen war. Sie sieht Bilder vor ihren geschlossenen Augen – nicht nur von Blexen, sondern auch von dem Hof, auf dem der Mann nun lebt.«
Thiderichs Zweifel hatten sich nun gänzlich in Aufregung verwandelt. »Walther, wenn das wirklich stimmt, dann kann es sich tatsächlich um einen Mann der Resens handeln – womöglich sogar um Albert von Holdenstede.«
Plötzlich fing die Alte wieder an zu sprechen. Mit eindringlichen Worten drängte sie die Männer, schnell nach Blexen zu reiten. Zwei andere Männer würden kommen – sehr bald schon. Sie würden nach dem Mann vom Strand suchen, und sie wollten ihm Böses.
Nachdem Walther auch das übersetzt hatte, überkam Thiderich eine Gänsehaut. »Die beiden Männer – das müssen die anderen Boten sein!«
Walther nickte. »Daran habe ich auch schon gedacht. Wir sollten uns tatsächlich beeilen, doch heute
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