Die Frau des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
sie suchten, schraken die Menschen zurück und schickten die Freunde fort. Thiderich und Walther konnten sich dieses Verhalten nicht erklären und vermuteten anfangs, dass die Leute einfach keine Fremden mochten, doch nach Stunden der erfolglosen Suche verließ sie schließlich jede Zuversicht. Hier würden sie nichts erfahren, und dafür gab es einen geheimen Grund.
Entmutigt kehrten Walther und Thiderich am Abend an den Strand zurück, den sie nach ihrer Ankunft gefunden hatten. Was sollten sie nun tun? Aufgeben? Es wurde tatsächlich immer wahrscheinlicher, dass Albert von Holdenstede nicht mehr am Leben war. Schließlich hatten sie bisher nicht einen einzigen Hinweis auf ihn gefunden. Vielleicht war das, was Heyno als Schleifspuren eines Verletzten zwischen zwei Männern gedeutet hatte, doch nur die Schleifspur eines Bootes oder die eines erlegten Tieres gewesen.
Fast war es dunkel. Der Wind pfiff unerbittlich über den Strand und ließ kleine dünne Wolken aus weißen Sandkörnchen in schleierartigen Bewegungen über den Boden fegen. Die Männer blickten fröstelnd aufs Wasser. In der Luft lag der Geruch von Salz. Bis auf den Gesang des Windes war es unglaublich still hier, und Thiderich schien es fast so, als hätten sie das Ende der Welt erreicht. Sollte das tatsächlich das Ergebnis ihrer Reise sein? War der weite Weg hierher umsonst gewesen? Er hob eine kleine Muschel auf. Erstmalig hielt er eine in der Hand. Nur die Pilger des Jacobsweges trugen welche an ihren Taschen oder Mützen, doch diese hier sah ganz anders aus. Sie war geschwungen, fast wie ein Schneckenhaus, nur länger und mit einem spitzen Ende. Nachdem er sie von Sand befreit hatte, steckte er die kleine Muschel in seinen Beutel. Möglicherweise würde er nie wieder in seinem Leben hierherkommen; dann sollte sie ihn an seine Reise erinnern.
Seine Enttäuschung darüber, den Auftrag wohl nicht erfüllen zu können, war groß, doch er musste sich eingestehen, dass die Wahrscheinlichkeit, Albert von Holdenstede lebend aufzufinden, von vornherein recht klein gewesen war. Gerade als er den ebenso enttäuschten Walther zum Aufbruch animieren wollte, kam eine sehr alte, gebückte Frau scheinbar aus dem Nichts heraus über den verlassenen Strand auf sie zugehumpelt. So unerklärlich es auch war: Die Greisin wollte eindeutig zu ihnen.
Weder Thiderich noch Walther hatten geglaubt, dass sie so bald schon wieder durch die unwegsame Landschaft Frieslands galoppieren würden.
Nachdem die unheimliche Alte sich mühsam durch den Sand zu den jungen Männern gekämpft hatte, forderte sie beide mit überraschend energischen Handbewegungen auf, ihr zu folgen. Dabei sprach sie kein einziges Wort. Nur ihr pfeifender Atem verriet, dass sie überhaupt Laute von sich geben konnte. Ihr hüftlanges Haar war schneeweiß, ihr Gang weit nach vorn gebückt und ihre Haut so faltig wie die eines alten Apfels.
Walther und Thiderich waren ihr einfach nachgegangen – ohne so recht den Grund dafür zu wissen. Gemeinsam liefen sie über den Strand, an den Häusern Aldessens vorbei und immer weiter, bis sie an eine windschiefe Hütte kamen, die aus altem Strandgut errichtet worden war.
In der Hütte fiel die Alte zunächst wie tot auf einen unordentlichen Haufen von Stofffetzen und weichen Gräsern. Dort lag sie eine ganze Weile mit geschlossenen Augen. Die Männer wussten nicht, was sie tun sollten, und so setzten sie sich auf den Boden und warteten. Nach einer halben Ewigkeit richtete sich die Erschöpfte dann endlich auf und fing an zu erzählen. Ihre Stimme war unangenehm kratzig und ihr Blick eigenartig starr. Sie hatte ihn auf irgendwas gerichtet, nur nicht auf ihre Besucher.
Selbst Walther hatte Mühe, ihre seltsame Aussprache zu verstehen, und auch das, was sie sagte, war kaum zu begreifen. Bis zu diesem Zeitpunkt waren beide Männer sich noch nicht sicher, ob die Alte fantasierte oder die Wahrheit sprach. Trotzdem blieben sie und hörten ihr zu. Irgendwann deutete sie während ihrer Erzählungen plötzlich mit dem Finger auf Thiderich, worauf dieser unruhig wurde. Im Flüsterton sagte er zu Walther: »Was machen wir hier eigentlich? Lass uns gehen, die Frau ist doch verrückt.«
Walther jedoch schaute weiter gebannt auf die unheimliche Alte und hob bloß die Hand vor Thiderichs Gesicht, um ihm zu bedeuten, dass er still sein sollte. Thiderich schüttelte etwas verwirrt den Kopf. War sie vielleicht doch eine Hexe und zog Walther gerade in ihren Bann?
Erst als sie
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