Die Frau des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
können wir nichts mehr ausrichten.«
Thiderich stimmte zu. Es fiel ihm schwer, seine Ungeduld zu bekämpfen und sich schlafen zu legen. Er war beflügelt, da ihnen so plötzlich eine neue Möglichkeit aufgezeigt wurde, nachdem sie schon dachten, gescheitert zu sein. Doch ihm war auch unheimlich zumute. War die Greisin tatsächlich hellsichtig? Woher sonst konnte sie all das wissen? Jedes ihrer Worte deutete darauf hin, dass es sich bei dem fremden Mann tatsächlich um Albert von Holdenstede handeln konnte. Ihnen blieb nichts anderes übrig, als ihr zu vertrauen und wirklich nach Blexen zu reiten.
Nach einer kurzen Nacht in der zugigen Hütte brachen sie beim ersten Dämmerlicht auf. Wie vom Teufel gejagt preschte Millie nun schon seit einigen Meilen in die Richtung, die die Alte ihnen gewiesen hatte. Wenn die Stute dieses Tempo beibehielt, wären sie noch vor der Mittagsstunde am endgültigen Ziel ihrer Reise.
Auch wenn Walther, der hinter Thiderich saß, bereits nach kurzer Zeit glaubte, die Haut müsse sich langsam von seinen Backen lösen, konnten sie nicht anhalten. Beide Männer wussten, dass ihnen nicht viel Zeit blieb, bis die Boten des Domkapitels und des Rates sie eingeholt hätten. Angetrieben von neuer Hoffnung, ihren Auftrag möglicherweise doch noch erfüllen zu können und den Totgesagten gesund heimzuführen, jagten sie wie der Wind über die matschigen Wiesen.
Dann endlich erblickten sie vor sich den einsamen Hof. Er lag abseits des Kirchspielortes Blexen, dessen Dächer in der Ferne zu sehen waren, und er war tatsächlich das exakte Abbild dessen, was die Frau ihnen gestern beschrieben hatte. Ein langes Haupthaus mit durchhängendem Dach, eingerahmt von zwei kleineren Scheunen an beiden Seiten. Vor dem Haus befand sich ein dünner, kahler Baum mit einer ungewöhnlich verwachsenen Baumkrone und einem Loch in der Mitte. Jeder Zweifel war fehl am Platze – sie waren am Ziel.
Endlich drosselte Thiderich das Tempo. Millie schnaubte und kaute aufgeregt auf ihrem Gebissstück. Ihre Brust, ihr Hals und ihre Flanken waren schweißnass, und ihr fuchsfarbendes Fell begann sich dort bereits zu wellen. Thiderich hielt die Stute an und klopfte ihr den Hals. Ebenfalls schwitzend und schwer atmend, glitten die Männer von Millies Rücken. Nun kam alles auf einen Moment an, denn eines war den Freunden klar: Sie mussten klug vorgehen, wenn sie nicht sogleich wieder vom Hofherrn verjagt werden wollten.
Natürlich war es Walther, der voranging – denn was hätte Thiderich dem Friesen schon sagen können? Mit vor Aufregung zitternden Fingern pochte er an die Tür des großen Bauernhauses. Gleich darauf wurde ihm geöffnet. Ein langer Kerl mit misstrauischem Gesicht und riesigen Händen stand vor ihm und fragte nach seinem Begehr.
Thiderich stand mit Millie in so großem Abstand von ihnen entfernt, dass er keinen Laut hören konnte. Er war so aufgeregt wie seit Tagen nicht mehr, und er hasste es, bloß unbeteiligt herumstehen zu können. Zig Fragen geisterten in seinem Kopf herum. Würden sie Albert von Holdenstede hier wirklich finden, oder hatte die Greisin womöglich irgendwelche alten Erinnerungen durcheinandergebracht? Sein Herz pochte ihm bis zum Hals, und sein Mund wurde trocken. Walther und der misstrauisch dreinschauende Hüne redeten bereits eine halbe Ewigkeit, als plötzlich und unerwartet das Gesicht des Mannes freundlicher wurde.
Lachend drehte Walther sich um und sagte: »Der Mann kennt meinen Ziehvater. Er bittet uns herein.«
Thiderich hätte am liebsten vor Erleichterung gejubelt. Schnell band er Millie an den seltsamen Baum und folgte der einladenden Geste des Bauern. Dann wurden sie an die Feuerstelle in der Küche geführt, wo noch eine ordentliche Glut glimmte. Dankbar wärmten sie sich daran die eiskalten Finger, während der Lange hinausging und nach irgendjemandem rief.
Walther blickte Thiderich ins Gesicht und nickte kaum erkennbar. Er für seinen Teil schien sich sicher zu sein, hier endlich den gesuchten Mann zu treffen. Die Spannung war kaum noch auszuhalten.
Es dauerte einige Zeit, da kam eine junge Frau herein. Sie sagte nichts, sondern nickte nur, um die Gäste zu begrüßen. Unaufgefordert stellte sie einen Krug mit trübem Wasser auf den Tisch, doch weder Thiderich noch Walther rührten ihn an.
Ungeduldig blickten sie immer wieder zu der Tür, durch die der Bauer verschwunden war. Dann endlich vernahmen sie Schritte. Der hochgewachsene Mann kam zurück, und hinter ihm
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