Die Frau des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
absolut machtlos – sogar Luburgis gegenüber. Welch eine Schmach!
Ohne ein Wort wandte sich Luburgis um. Sie war nicht dumm und wusste, dass ihr Bruder Conrad nicht gedroht hatte, weil er um das Wohlergehen seiner geliebten Schwester fürchtete. Sie wusste, dass auch sie nur ein Mittel zum Zweck für ihn war, doch das kümmerte sie nicht. Das erste Mal in ihrer Ehe hatte sie die Oberhand, und sie genoss es. Wie ein ungezogenes Kind ließ sie Conrad einfach stehen und ging in Ragnhilds Kammer, wo sie ihrer verhassten, halb bewusstlosen Schwägerin zum ersten Mal den betäubenden Trank verabreichte.
Wie das Blatt sich doch gewendet hat, dachte sie mit einem Lächeln, als die grüne Flüssigkeit in Ragnhilds Kehle lief.
Ragnhild erwachte aus einem wirren Traum. Doch schien es nicht der Traum einer einzigen Nacht gewesen zu sein, sondern der von mehreren Tagen – oder waren es Wochen?
Obwohl ihre Augen nun geöffnet waren, umgab sie ein seltsamer Nebel. Sie versuchte sich zu konzentrieren. Was war geschehen? Nach Minuten der Anstrengung kamen die Erinnerungen zurück. Ihr Bote, Thiderich … er war gescheitert. Die Boten Conrads waren vor ihm zurückgekehrt. Nun gab es keine Hoffnung mehr für sie.
Unter unglaublicher Anstrengung setzte sie sich auf und hob die rechte Hand. An ihrem Daumen steckte noch der viel zu große Ring Alberts. Stumm betrachtete sie ihn eine Weile. Wenigstens sein Ring war ihr von ihrem Mann geblieben, nachdem sie ihren für Thiderichs Reise hatte opfern müssen.
Unaufgefordert kamen ihr die Worte des Boten vor dem Rathaus in den Kopf. Ein friesischer Kirchenmann hätte ihnen den Ring ausgehändigt, nachdem er Albert auf seinem Gottesacker hatte begraben lassen. Das sollten seine Worte gewesen sein. Ragnhild wusste nicht, was sie davon halten sollte.
Sie fasste sich an ihren schweren Kopf. Das Hämmern wollte nicht verschwinden. Warum nur fiel ihr das Denken so schwer? Warum nur war sie zu keinem Gefühl fähig? Nicht einmal zur Trauer?
Gerade als sie sich erheben wollte, wurde die Tür zu ihrer Kammer geöffnet. Luburgis trat ein. »Sieh an, du bist erwacht«, sagte diese fast freundlich und ging um das Bett herum. Schon stellte sie die nächste Frage, dann noch eine und noch eine.
Ragnhild hatte Mühe, sie zu verstehen. Alles klang so weit weg; als höre sie die Stimme der Schwägerin wie durch dicken Damast.
»Ragnhild!«, wiederholte Luburgis. »Trink dies. Dann wird es dir bald besser gehen.«
Vollkommen willenlos schluckte Ragnhild die zähe Flüssigkeit, die ihr Luburgis hinhielt. Sie schmeckte nichts.
Dann begann Luburgis ihr das Haar zu bürsten. Dabei redete sie unentwegt, aber mit ruhiger Stimme auf sie ein. »Ragnhild, höre mir zu. Dein Mann ist tot; hörst du mich? Albert ist tot. Du bist jetzt Witwe. Und weißt du auch, warum? Ich kann es dir sagen. Eure unstandesgemäße Ehe hat Gott erzürnt. In dir fließt nur das Blut einer Magd; Albert hingegen war hochwohlgeboren. Eure Verbindung hat Missgunst und Verderben über unsere Familie gebracht und hätte niemals sein dürfen. Nun ist er tot, weil er mit eurer Ehe unrecht gehandelt hat. Hörst du mich, Ragnhild? Du trägst Schuld an seinem Tod, und es wird nun Zeit für dich, Buße zu tun.«
Die Worte Luburgis’ zerflossen in Ragnhilds Ohren zu einem einzigen Ton. Fast nichts von dem, was sie sagte, kam tatsächlich bei ihr an. Doch irgendwann hatte sie einen lichten Moment, und sie konnte ein paar von Luburgis’ Worten deuten.
»Wenn du nicht willst, dass deine Sünden auf deine Kinder übertragen werden, musst du in ein Kloster gehen und für deine Taten büßen. Hörst du mich, Ragnhild? Tritt ins Kloster der Beginen ein und …«
»Nein«, schoss es plötzlich aus der Witwe heraus. »Was wird dann aus meinen Kindern?« Gleich darauf war alle Kraft verbraucht. Die Worte hatten Ragnhild so sehr angestrengt, dass sie sich bemühen musste, nicht auf der Stelle einzuschlafen.
»Die Kinder werden hierbleiben und eine gottesfürchtige Erziehung genießen. Denke doch an ihr Wohl, Ragnhild. Willst du etwa, dass Gottes Zorn sie ebenso trifft wie Albert?«
Luburgis’ Worte wurden nun fast flehend. Seit über einer Woche schon bearbeitete sie Ragnhild täglich. Doch immer wieder führten sie bloß die gleiche Diskussion, die Ragnhild am nächsten Tag bereits wieder vergessen zu haben schien. Es war ermüdend. Langsam gingen Luburgis die Argumente aus. Sie war nicht einen Schritt vorangekommen, doch sie hatte keine
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