Die Frau des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
richtete ihren Blick auf die feilgebotenen Waren. Gemächlich schritt sie einen Stand nach dem anderen ab und winkte Runa in regelmäßigen Abständen zu, um ihr zu zeigen, wo sie sich gerade befand. Sie hatte gar nicht wirklich vor, etwas zu kaufen, sondern wollte nur schauen. Vor einem Stand mit Tuchen blieb sie eine Weile stehen und strich bedächtig mit den Fingern über die weichen Rollen. Dann ging sie weiter zu einer Frau mit allerlei Gewürzen in kleinen Tongefäßen. Der Geruch war so intensiv, dass er Ragnhild unangenehm zu Kopfe stieg. Schnell ging sie weiter, doch das Gedränge zwischen den Ständen und das Geschubse der Frauen mit ihren Körben verstärkten ihre aufkeimende Übelkeit. Ragnhild merkte plötzlich, wie schwach sie noch auf den Beinen war. Der Marktbesuch strengte sie mehr an, als sie es vermutet hatte. Überall roch es nach Backwaren und Fisch, Leder und Fleisch, Kräutern und ungewaschenen Leibern. Sie hörte das Lärmen der Marktschreier und Kinder. Von irgendwoher drang Musik an ihr Ohr. Schwer atmend schaute sie sich um. Runa war vor einen Spielmann stehen geblieben und betrachtete ihn fasziniert. Ragnhild wollte gerade zu ihr gehen, als sie ein heftiger Schwindel erfasste. Ihre Beine wollten ihr kaum mehr gehorchen. Ganz plötzlich hatte sie das Gefühl, dass sich etwas Schweres auf ihre Brust legte. Mit offenem Mund rang sie nach Luft. Kalter Schweiß trat aus ihren Poren. Sie musste raus aus der Menge; nur ein kleines Stück, dann würde es ihr gewiss gleich besser gehen.
Der Markt befand sich wie immer am Hafen, sodass sie die Möglichkeit hatte, Richtung Wasser zu laufen. Dort war das Gedränge nicht ganz so dicht. Sie hoffte, dass die freie Sicht auf das Nikolaifleet ihr das beklemmende Gefühl in der Brust nehmen würde. Nach Luft ringend, schob sie sich durch die Massen. Gleich war sie da. Die Kaimauer war schon zu sehen. Nur noch wenige Schritte. Ragnhild kniff die Augen zu und riss sie wieder auf, um ihren Blick zu schärfen. Wenn doch nur der Schleier vor ihren Augen verschwinden würde. Warum nur hatte sie sich den Weg zum Markt jetzt schon zugemutet? Ihr Gang wurde schwankender. Auf ihrer Stirn perlten bereits dicke Schweißtropfen. Die Gesichter um sie herum formten sich zu verzerrten Fratzen. Ragnhild wurde angst und bange. Nur noch ein Gedanke beherrschte sie – Luft! Dann erreichte sie das Wasser und zwang sich zur Ruhe. Ihr Atem ging schnell und stoßweise. Beruhige dich, beruhige dich, sprach sie zu sich selbst, als plötzlich eine der Fratzen näher an sie herantrat. Ragnhild kniff erneut die Augen zu und blinzelte, um besser sehen zu können. Es war … das Gesicht Hesekes! Noch bevor sie wusste, wie ihr geschah, sah sie schon zwei zu Krallen geformte Hände auf sich zukommen. Wie von zwei Hämmern gegen die Brust gestoßen presste es ihr auch noch die letzte Luft aus den Lungen. Sie fühlte, wie ihr Körper fiel. Ragnhild wollte schreien, doch ihr Mund blieb stumm. Das Klatschen ihres Körpers beim Eintauchen ins Wasser war das einzige Geräusch, das sie verursachte. Die Wellen schlugen über ihr zusammen.
Dann vernahm sie doch ein Schreien, aber es stammte nicht von ihr, sondern von Heseke.
6
»Es betrübt mich, das zu hören, Conrad. Seid Ihr Euch sicher, dass es sich genau so zugetragen hat?«, fragte Bertram Esich hörbar schwermütig.
»Ja, leider gibt es keinen Zweifel«, antwortete Conrad ernsthaft.
»Ihr sagtet etwas von einer Zeugenaussage?«
»Ganz recht. Um meine Worte zu bekräftigen, habe ich mit der Erlaubnis ihres Gemahls die ehrenwerte Domina Heseke herbestellt. Sie war es, die des traurigen Schauspiels auf dem Markt ansichtig wurde.«
Nickend sagte der Bürgermeister: »Nun, vom Berge, da Ihr als ihr Vormund anwesend seid, bin ich bereit, Domina Heseke vor dem Rat sprechen zu lassen und mir ihre Aussage anzuhören.« Mit einer eindeutigen Geste in Richtung des Ratsboten forderte er laut: »Holt die Dame herein.«
Nur wenig später trat Heseke mit gespielt bekümmertem Gesicht in den Versammlungssaal des Rathauses. Sich der Wichtigkeit ihrer Aussage bewusst, hatte sie eine Zwiebel in den Falten ihres Rockes verborgen, an der sie vor der Tür des Rathauses gerochen hatte. Ihre Augen schienen nun rot geweint und ihr Gesicht von Trauer gezeichnet.
Als sie eintrat, konnte ihr Mann Johannes sich nicht erklären, wie sein Weib das nun wieder angestellt hatte. Sie war wahrlich eine Meisterin der Verstellung; das musste er ihr neidlos
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