Die Frau des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
zugestehen.
Dann ergriff der Bürgermeister das Wort. »Domina Heseke, bitte verzeiht die Unannehmlichkeiten. Ich werde Euch dieser beschwerlichen Situation nicht länger als unbedingt nötig aussetzen. Erzählt dem Rat, was sich am gestrigen Tage abgespielt hat.«
Mit triefender Nase und züchtig gesenktem Blick fing Heseke an zu sprechen. »Es … es fällt mir nicht leicht, von dem vergangenen Markttag zu erzählen. Der Schreck über das, was ich dort habe beobachten müssen, sitzt mir noch immer tief in den Gliedern. Ich …« Heseke fasste sich ans Herz, um so ihre scheinbare Betrübtheit auszudrücken, und schluckte schwer. Dann erst schaffte sie es, weiterzusprechen. »Ich sah, wie die Dame Ragnhild sich von ihrer Tochter entfernte und diese einfach bei einem dieser teuflischen Spielmänner stehen ließ. Das arme Kind …«, schluchzte sie nun herzerweichend. »Es stand dort, vollkommen allein, diesem ungläubigen Sünder schutzlos ausgeliefert.« Nach einer weiteren kurzen Pause festigte sich ihre Stimme. »Dann bemerkte ich, dass sie sich geradewegs auf das Wasser zubewegte. In ihrem Gesicht konnte ich deutlich Trauer und Verzweiflung erkennen – sehr wahrscheinlich über den Tod ihres geliebten Gemahls. Das Herzweh muss Ragnhild schließlich übermannt haben, denn sie ist ohne Zögern in das Nikolaifleet gesprungen.« Plötzlich hob Heseke zum ersten Mal den Blick. Sie sah dem Bürgermeister und all den anderen anwesenden Männern ins Gesicht und sagte: »Ich weiß, dass Selbstmörder gegen Gottes Gebote handeln und bestraft werden müssten, doch ich flehe Euch an, Ihr klugen Herren, lasst Gnade mit der trauernden Witwe walten. Der Schmerz über den Verlust ihres Ehemanns hat ihre Sinne getrübt. Sicher aber wird der grundgütige Herrgott seiner sündigen Tochter verzeihen, wenn sie nur Buße tut. Buße in den heiligen Gemäuern Gottes; etwa dem Kloster der Beginen.«
Der Bürgermeister dankte Heseke und befahl dem Ratsboten, die geschwächte Zeugin nach Hause zu geleiten.
Lange Zeit sagte Esich nichts. Seine Gedanken fochten einen Kampf aus. Was war die richtige Entscheidung? Brauchte die trauernde Witwe einen neuen Ehemann, der sie entsprechend züchtigte und mit einem neuen Haushalt und neuen Kindern von ihrer Trauer befreite, oder sollte sie Buße tun für die begangenen Sünden, die sie ihrer bedauernswerten Seele aufgebürdet hatte? Er selbst hätte sich kaum zugestanden, die richtige Entscheidung zu treffen, doch eine Abstimmung unter den gescheiten Köpfen in diesem Saal würde Gewissheit bringen. »Ihr habt nun die Zeugin gehört. Lasst uns gemeinsam über das Schicksal der Dame Ragnhild entscheiden. Wer dafür ist, dass die Witwe ins Kloster der Beginen geschickt wird, um dort Buße zu tun, hebe die Hand.«
Das Ergebnis der Abstimmung war eindeutig und ohne Gegenstimmen.
»Habt Dank, meine Herren. Es sei hiermit entschieden, dass die Witwe in das Kloster der Beginen geschickt wird, bis sie wieder klaren Verstandes ist. Das Vermögen ihres verstorbenen Mannes, welches er nach seinem fünfundzwanzigsten Geburtstag eigentlich ausgezahlt bekommen hätte, fließt am Tage des Eintritts in das Kloster an Conrad von Holdenstede zurück.«
Ragnhild verlor alles an diesem Tag. Jeden Anspruch auf das Erbe ihres Mannes, ihr Zuhause, ihre Kinder. Albert hatte vor seiner Reise kein Testament verfasst, das die Verteilung seines Vermögens im Falle seines Ablebens regelte, und auch wenn das Ordeelbook ihr dennoch Besitz zusprach, galt sie dieser Tage als verrückt. Dieser Umstand gereichte Ragnhild nun zum Nachteil und kam Conrad zugute. Lediglich den Betrag, den es zu vergüten galt, damit ihr der Eintritt in das Kloster gewährt wurde, hatte er zu zahlen. Damit war alle Schuld gegenüber seiner Schwägerin abgegolten. Runa und die Zwillinge wurden ab sofort unter die Obhut des Familienoberhauptes derer von Holdenstede gestellt. Somit war es amtlich; Ragnhild war mittellos und entmündigt, und Conrad und Luburgis von Holdenstede waren ab heute die Eltern ihrer drei Kinder.
»Habe ich das wirklich getan, Hilda? Wollte ich sterben? Habe ich Runa einfach zurückgelassen? Ich kann mich nicht mehr erinnern. Mein Kopf ist so leer.«
Hilda war mit ihrer Freundin allein in deren Kammer. Wortlos half sie ihr beim Anziehen. Über das Gesicht der Magd rannen unaufhörlich Tränen. Heute war der Tag des Abschieds.
Von der einst so lebenslustigen Ragnhild war nichts mehr übrig geblieben. Ihr Gesicht war
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