Die Frau des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
Die Aufregung, die sie befallen hatte, als eine der jüngeren Schwestern sie plötzlich zu der Magistra befahl, war mit einem Mal wie verflogen. Hier, im Zimmer der Konventsleiterin, war es friedlich. Ihr Bett sah etwas größer aus als das der Schwestern; doch das war auch fast schon der einzige Überfluss, den es hier zu erkennen gab. Neben der Bettstatt stand ein Kohlebecken, welches den Raum mit wohliger Wärme erfüllte. Daneben befand sich eine reich verzierte Truhe, die wohl zu dem spärlichen Privatbesitz der Magistra gehörte. Die andere Seite des schmalen Zimmers war vollständig durch ein Schreibpult mit allerlei Papieren darauf ausgefüllt. Hier verbrachte die Gelehrte viel Zeit – mindestens genauso viel wie im Gebet.
Ragnhild war gespannt. Was konnte die Konventsleiterin von ihr wollen? Mit gesenktem Blick wartete sie, bis sie etwas gefragt wurde. Doch bevor die Magistra auch nur einen Ton sagen konnte, wurde sie von einem keuchenden Husten geschüttelt. Ragnhild war sogleich zur Stelle. Behutsam setzte sie die zusammengesunkene Frau wieder auf und reichte ihr einen Becher. Als sie aber sah, wie sehr die Hände der Weißhaarigen zitterten, führte sie selbst den verdünnten Wein an die runzeligen Lippen und half ihr so beim Trinken. In diesem Moment konnte Ragnhild deutlich erkennen, wie alt die Magistra bereits war.
Erneut setzte die weise Frau zum Sprechen an. »Habt Dank, Schwester Ragnhild. Heute ist der Husten besonders schlimm. Doch ich habe Euch nicht rufen lassen, damit Ihr meine Krankenpflege übernehmt. Bitte, erzählt mir, wie es Euch bisher im Kloster ergangen ist.«
»Ehrwürdige Magistra, ich danke Euch für Eure Fürsorge. Mir ist es gut ergangen.« Ragnhild hoffte inständig, dass ihre Lüge glaubwürdig war. »Schwester Ingrid tut alles, um mich mit den Gegebenheiten des Klosters vertraut zu machen, und ich hoffe, dass ich Eurem Anspruch gerecht werde.« Bei diesen Worten hielt sie den Blick gesenkt. Eigentlich hatte Ragnhild bereits viel eher mit dieser Frage gerechnet. Schon seit vier Wochen war sie nun im Kloster; mehr als genug Zeit, um sich eine passende Antwort zu überlegen. Lange hatte sie darüber sinniert, ob sie tatsächlich lügen sollte. Es wäre schließlich eine gute Gelegenheit gewesen, der Magistra die Wahrheit über Ingrids Demütigungen zu sagen. Doch Ragnhild hatte sich dagegen entschieden. Zu groß war ihre Angst, dass die Magistra ihr keinen Glauben schenken würde. In diesem Falle hätte Ragnhild sehr wahrscheinlich nicht bloß ihre Gunst, sondern wohl auch die ihrer Mitschwestern verloren. Dieses Risiko konnte sie einfach nicht eingehen, und so entschied sie sich, irgendwie mit Ingrids Böswilligkeit zu leben.
Plötzlich griff die Magistra nach Ragnhilds Hand. Beide Frauen blickten einander an. »Schwester Ragnhild, auch wenn ich alt und krank bin, kann ich doch in Euer Herz sehen. Ich kann fühlen, dass Ihr noch immer Eurem Schicksal zürnt. Versucht Frieden zu schließen mit der Vergangenheit. Es ist verständlich, dass Euch die Umstände grämen, die Euch zu uns ins Kloster gebracht haben, aber im weltlichen Leben müssen sich die Frauen den Männern beugen. Hier im Kloster aber könnt Ihr neu anfangen. Dort draußen ist Euch vielleicht Unrecht widerfahren, aber hier sind wir alle Bräute Christi. Unser Herrgott ist gnädig; Er wird Euch nicht enttäuschen, meine Liebe.«
Ragnhild spürte, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten. Die einfühlsamen Worte der Magistra kamen völlig unerwartet, und sie taten so unendlich gut. Erst jetzt bemerkte Ragnhild, wie sehr sie sich danach gesehnt hatte, von irgendjemandem etwas Fürsprache zu erhalten. Dankbar drückte und küsste sie die Hand der Konventsleiterin. »Wie kann ich Euch nur danken, weise Magistra? Jedes Eurer Worte ist wahr. Tatsächlich konnte ich bisher noch keinen Frieden mit meinem Schicksal machen. Doch ab heute will ich mich redlich bemühen und versuchen, Eurem Rat zu folgen.«
»So ist es richtig. Vertraut auf unseren Herrn und begebt Euch in seine schützenden Hände.« Dann setzte sie noch mit einem Augenzwinkern hinzu: »Am besten beginnt Ihr gleich damit, ihn mit Eurem Tagwerk zu erfreuen, und macht Euch wieder an die Arbeit im Klostergarten.«
Wenige Augenblicke später befand Ragnhild sich wieder auf den Fluren des Klosters. In ihr hatte sich eine unbeschreibliche Ruhe ausgebreitet, und neuer Lebensmut beflügelte ihren Schritt. Noch immer staunte sie über die Weisheit der greisen
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