Die Frau des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
Frau. Woher konnte sie so genau wissen, welche Gefühle sie betrübt hatten? Nicht minder erstaunt war Ragnhild darüber, dass die Magistra offensichtlich mehr von der Welt außerhalb der Klostermauern verstand, als sie es zugeben wollte. Durch geschickte Worte hatte sie Ragnhild klargemacht, dass sie ihre Geschichte genauestens kannte und darum auch wusste, wie sie unter Conrad gelitten hatte. Ihre Worte gaben Ragnhild das Gefühl, nicht mehr allein mit ihrem Kummer zu sein. Es gab jemanden innerhalb der Klostermauern, der sie verstand. Sie war so ungemein erleichtert, so beschwingt und so heiter, dass sie in diesem Moment einen Entschluss fasste. Es sollte eine Wende in ihrem Leben geben. Ab heute würde sie die Zukunft so nehmen, wie sie vor ihr lag. Ragnhild war nun nicht mehr die Frau eines Kaufmanns. Nein, sie war jetzt eine Begine – Schwester Ragnhild –, und zum ersten Mal konnte sie sich darüber ein bisschen freuen.
Völlig gedankenverloren ging sie, den Blick nach unten gerichtet, durch das Kloster. Ihre Füße trugen sie wie von selbst. Sehr wahrscheinlich wäre sie noch bis zur Dämmerung so weitergewandert, wenn sie nicht ein plötzliches Pochen an das Klostertor aufgeschreckt hätte.
Keine Schwester war zu sehen; alle schienen im Garten oder mit Handarbeiten beschäftigt zu sein. Darum ging Ragnhild kurzerhand selbst zum Tor und öffnete die kleine Guckluke in der Mitte, um sich zu versichern, wer um Einlass bat. Nach einem leisen Ausruf des Erstaunens sagte sie: »Hildegard! Was tust du denn hier? So komm doch herein.« Ragnhild öffnete das schwere, eisenbeschlagene Tor und bat ihre einstige Nachbarin ins Innere. Gleich darauf schlossen sich die Frauen herzlich in die Arme.
»Meine Liebe, du bist dünn geworden. Wie ist es dir ergangen?« Hildegard ließ Ragnhild gar keine Zeit zu antworten und sprach sofort weiter. »Ich habe sehr wichtige Neuigkeiten für dich. Bitte führe mich in deine Kammer, damit wir reden können.«
Ragnhild zögerte keinen Moment. Kurzerhand wies sie ihrer Freundin den Weg und geleitete sie unbemerkt in ihr karges Zimmer. Dort angekommen, bedeutete ihr Hildegard, sich besser zu setzen. Sie wirkte rastlos, und auch ihre Kleidung, die sonst niemals so in Unordnung war, deutete darauf hin, dass ihr Hildegard etwas Wichtiges mitzuteilen hatte. »Ich weiß nicht so recht, wie ich anfangen soll. Das, was ich zu sagen habe, fällt mir nicht leicht.«
Ragnhild wollte ihre Besucherin beruhigen und sagte: »Keiner kann uns hören, meine Liebe. Hier sind wir ungestört. Sprich einfach frei heraus.«
Hildegard straffte ihren Rücken, atmete tief durch und fing dann an zu erzählen. Es war ihr deutlich anzumerken, dass sie sich nicht wohl in ihrer Haut fühlte, und dennoch hatte sie sich entschieden zu reden – obwohl sie so ihren Mann hinterging. Zunächst klang die Geschichte etwas konfus. Wild sprang sie in ihrer Erzählung mehrmals hin und her, doch dann endlich fand sie ihren Rhythmus. Sie erzählte haarklein alles, was sie mit anhören musste, als sie den verschütteten Wein aufgewischt hatte. Davon, wie Luburgis durch Ingrid und Heseke an den betäubenden Trunk gekommen war, den sie Ragnhild eingeflößt hatte, um sie willenlos zu machen und sie so ins Kloster zu schaffen. Davon, wie ihr eigener Ehemann zusammen mit Johannes vom Berge und Vater Lambert dunkle Ränke geschmiedet hatte, um an Ragnhilds Kinder zu kommen, die unter Luburgis’ Obhut die Sippe derer vom Berge vergrößern sollten. Und sie erzählte auch davon, dass Heseke sie am Kai geschubst hatte und Ragnhild somit gar nicht freiwillig gesprungen war. Als sie endlich geendet hatte, schnappte Hildegard nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen. Sie hatte ihr Geheimnis einfach so herausgeschleudert, aus Angst, mitten in der Erzählung, von der Feigheit ergriffen, innezuhalten. Nun aber war alles gesagt. Erwartungsvoll starrte sie Ragnhild an. Diese hatte zwar aufmerksam zugehört, doch war sie nicht, wie eigentlich von Hildegard erwartet, in Tränen ausgebrochen. Sie saß einfach da und blickte unbewegt auf Hildegard.
»Ich bin nicht gesprungen? Ich wollte nicht sterben?«, fragte Ragnhild als Allererstes.
»Nein, bist du nicht. Heseke hat dich gestoßen. Sie wollte erreichen, dass alle denken, du wärst wegen Alberts Tod des Lebens müde. Deshalb hat der Rat auch entschieden, dich vorerst wegzusperren, bis du wieder bei Sinnen bist. Luburgis hat, wie beabsichtigt, deine Kinder zugesprochen bekommen. Es
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