Die Frau des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
besonders viele Bürger gekommen. Es sah ganz so aus, als ob es eine lange Sitzung werden würde. Schon der erste Mann sorgte für eine hitzige Diskussion. Er behauptete, schon seit Jahr und Tag einen Weg neben seinem Grundstück zu benutzen, den er nun gerne als sein Eigentum eintragen lassen wollte. Sein Nachbar aber behauptete das Gleiche und war nicht bereit, von seiner Forderung abzulassen.
Die anwesenden Ratsherren und der Bürgermeister versuchten nach Kräften, die Gemüter zu beruhigen, doch wie auch schon in so vielen Fällen zuvor ging es eigentlich nicht um den genannten Weg, sondern um einen bereits seit Jahren schwelenden Nachbarschaftsstreit. Als sich die Zwistigkeiten nach einer gefühlten Ewigkeit endlich zu lösen begannen und Bertram Esich zur Zufriedenheit beider Parteien entschied, dass der Weg in der Mitte geteilt und somit jedem der Männer ein gleich großes Stück zugesprochen wurde, kam plötzlich eine blau gewandete Gestalt herein.
Johann Schinkel entdeckte sie zuerst; niemand sonst schenkte ihr Beachtung. Der Stadtnotar sah natürlich gleich, dass es sich um eine Begine handelte; und auch, dass sie aussah, als würde sie von Tod und Teufel gehetzt. Noch bevor der Bürgermeister zu seiner Rechten den nächsten Bittsteller aufrufen konnte, machte Schinkel ihn auf die Beginen-Schwester aufmerksam.
Bertram Esich zog erstaunt die Brauen hoch. Es war absolut nicht üblich, dass die frommen Frauen sich unter die Besucher des Audienztages mischten – und schon gar nicht ohne Vormund! Gerade wollte er einen Ratsboten zu sich rufen, der die Schwester wieder hinausgeleiten sollte, als er plötzlich etwas genauer hinschaute. Er verengte seine Augen und stutzte. War das möglich? War diese Schwester tatsächlich die Dame Ragnhild?
Nun folgten auch andere Ratsmänner dem Blick des Bürgermeisters. Nach und nach verstummte der Saal. Von außen betrachtet, hätte wohl niemand bemerkt, dass einigen der anwesenden Männer beim Anblick Ragnhilds ein Kloß im Halse stecken blieb.
Willekin von Horborg und Johannes vom Berge wollten ihren Augen kaum trauen, doch Conrad war wie vom Donner gerührt. Was fiel diesem Weib ein, das Kloster zu verlassen? Fast verzweifelt suchte Conrad den Blick des Bürgermeisters. Auch wenn ihm nicht im Geringsten einfiel, wie Ragnhild ihm jetzt noch schaden konnte, klammerte er sich doch an die Hoffnung, dass Esich das Weib in den nächsten Momenten aus dem Rathaus werfen würde. Conrad konnte es sich nicht erklären, aber die Gegenwart Ragnhilds kam ihm vor wie ein auf ihm lastender Fluch.
Nach einem Handzeichen des Bürgermeisters verstummte auch noch der letzte unaufmerksame Sprecher. Nun hingen alle an seinen Lippen.
Bertram Esich wusste, was die Ratsherren jetzt von ihm erwarteten. Natürlich war es unerhört, dass sich die Dame Ragnhild ohne männliche Begleitung hierherwagte, und das auch noch, nachdem der ehrwürdige Rat selbst sie ins Kloster verwiesen hatte. Es wäre nur rechtens, sie auf der Stelle wieder dorthin zurückzuschicken. Doch Esich hatte andere Pläne. Er hatte sich spontan dazu entschieden, seine erhabene Stellung als erster Bürgermeister Hamburgs heute auszuspielen, indem er seiner Intuition nachgab. Nur schweren Herzens hatte er die Dame Ragnhild damals für verrückt erklärt und sie ins Kloster geschickt. Er konnte bis heute nicht glauben, dass sie tatsächlich eine Selbstmörderin war. Jetzt sagte ihm sein Herz, dass er sie sprechen lassen sollte. Zum grenzenlosen Entsetzen von Conrad, Johannes und Willekin forderte Esich sie auf: »Tretet näher, Dame Ragnhild. Was ist Euer Begehr?«
Ragnhild schloss für einen kurzen Moment die Augen und schluckte schwer. Das war ihr Augenblick! Würde sie jetzt auch nur ein einziges Wort herausbekommen? Hatte sie die rechte Entscheidung getroffen? Sie atmete ein und wieder aus. Dann streifte sie sich die blaue Kapuze vom Kopf. Ja, sie war sich sicher; und gleich würde es kein Zurück mehr geben. Mit einem beherzten Schritt trat sie näher an den Bürgermeister heran. Dabei vermied sie es, so gut es ging, in die Menge der Ratsherren zu blicken. Sie wusste, dass dort ihre Feinde saßen; doch sie war ihnen einen Schritt voraus. Keiner der Männer ahnte nämlich, was sie bereits alles über ihre Machenschaften wusste, und das würde sie jetzt ausnutzen.
»Sprecht frei heraus, Dame Ragnhild«, forderte Esich sie erneut auf.
Dann ertönte Ragnhilds Stimme. Sie war klar und kräftig, genau so, wie sie es sich
Weitere Kostenlose Bücher