Die Frau des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
Gesichtern abzulesen. Doch nun war es zu spät für Reue, denn das Amt der Konventsvorsteherin war eines auf Lebenszeit – nur der Domdekan konnte sie absetzen.
Ragnhild ging in ihrer Kammer auf und ab. Irgendwann ließ sie sich entmutigt auf ihren Schemel fallen. Seit Stunden war sie bereits dabei, sich krampfhaft etwas auszudenken, was ihre beiden Bewacherinnen dazu veranlassen könnte, sie aus ihrem Zimmer herauszulassen. Die Zeit rann ihr unaufhaltsam durch die Finger, als ihr vollkommen unerwartet das Schicksal zu Hilfe kam. Die Tür ihrer Kammer wurde geöffnet, und die dünne Stimme der jungen Begine sagte zu ihr: »Die Magistra wünscht Euch zu sprechen, Schwester Ragnhild. Kommt bitte mit mir.«
Fügsam erhob sich Ragnhild von ihrem Schemel. Ihre Gedanken begannen zu rasen. Würde diese Situation ihr eine Fluchtmöglichkeit bieten? Scheinbar ergeben folgte sie den beiden Schwestern die Flure entlang. Nach ein paar Schritten erreichten sie den Gang, der zum Gemach der Magistra führte. Dort angelangt, konnte Ragnhild sogar schon das Tor des Klosters sehen. Ihr Körper war bis zum Zerreißen gespannt. Sie musste es irgendwie schaffen, hinauszugelangen, doch wie sollte sie das tun? In ihrem Kopf schwirrte es. Die drei Frauen schritten an dem Tor nach draußen vorbei. Aus dem Augenwinkel konnte Ragnhild erkennen, dass es leider verschlossen war. Wäre es offen gewesen, hätte sie wohl tatsächlich in Erwägung gezogen, einfach hinauszurennen. Doch so verstrich diese Möglichkeit ungenutzt, und sie passierten das geschlossene Tor, ohne dass etwas geschah. Bald schon würden sie das Gemach Ingrids erreichen. Wer weiß, was darin geschehen würde. Vielleicht gäbe es danach gar keine Möglichkeit zur Flucht mehr. Ragnhild beschloss augenblicklich, dass sie unbedingt verhindern musste, überhaupt zu Ingrid hineinzugehen. Es musste ihr etwas einfallen; und zwar schnell.
»Wartet«, stieß Ragnhild plötzlich aus. »Ich … ich habe die Kleider der Magistra, die ich zum Nähen und Säubern bekommen habe, in meiner Kammer liegen gelassen. Sie sollten bereits fertig sein. Ich werde sie schnell holen gehen.«
Die beiden Schwestern schauten sich beunruhigt an. Ingrid hatte ihnen klargemacht, wie sehr sie es hasste, zu warten. Doch dann sagte die Größere der beiden: »Ich werde schon einmal vorgehen. Lauf du mit ihr zurück und hole die Kleider. Beeilt Euch!«
Ragnhilds Herz machte einen Sprung. Nun galt es nur noch, eine Schwester zu überwältigen. Das sollte zu schaffen sein.
Die dünne Begine lief voraus. Fahrig hastete sie zu Ragnhilds Kammer, öffnete die Tür und wollte gerade nach dem Stoffhaufen auf der Truhe greifen, als sie plötzlich über ihm zusammenbrach.
Ragnhild ließ erschrocken den Schemel fallen und schlug beide Hände vor ihren Mund. Mit einem lauten Krachen ging das Holz zu Boden, dann war es still. Noch immer starrte Ragnhild auf ihre Mitschwester. So kräftig hatte sie gar nicht zuschlagen wollen. Heilige Muttergottes, hatte sie die Schwester womöglich getötet? Ragnhild beugte sich hinunter und horchte. Die Bewusstlose atmete noch, und so langsam wurde sie auch wieder munterer. Nicht mehr lange, und sie würde wieder bei Sinnen sein.
Schnell, ermahnte sich Ragnhild. Beeile dich. Du musst hier raus! Geschwind blickte sie aus ihrer Kammertür. Der Flur war ruhig, niemand war zu sehen. Dann eilte sie los. Auf Zehenspitzen durchquerte sie die Gänge. Ragnhild verursachte keinen einzigen Laut. So schnell sie nur konnte, hastete sie weiter, bis sie schließlich am Tor ankam. Atemlos öffnete sie die schwere Holztür mit den Eisenbeschlägen einen Spaltbreit und schlüpfte lautlos hindurch.
Sie hatte es geschafft. Sie war tatsächlich entkommen. Nun gab es für sie nur noch ein Ziel – das Rathaus!
Das dicke Stadterbebuch lag vor dem übermüdeten Johann Schinkel. Der allwöchentlich stattfindende Audienztag war für ihn stets eine Qual. Niemals verlief dieser Tag friedlich, immer wurde heftigst gestritten. Wenn es um das Feststellen von Besitzansprüchen ging, dann gab es unter den Nachbarn keine Freunde mehr.
Jeder Hamburger Bürger, der ein Grundstück als sein Eigentum anmelden und ins Stadterbebuch eintragen lassen wollte, konnte an diesem Tage der Woche vor den Rat treten. Voraussetzung für das Zusprechen von Besitz war, dass der Antragsteller dieses Grundstück bereits für ein Jahr und einen Tag innehatte. Erst dann trat das so genannte Gewohnheitsrecht in Kraft.
Heute waren
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