Die Frau des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
starren. Sie stand auf und ging in den gemeinsamen Gebetsraum der Beginen-Schwestern.
Die ersten vier Jahre ihres Lebens, die sie mit ihrer Mutter verbringen durfte, hatten offenbar ausgereicht, um deren Zweifel am Glauben zu übernehmen. Es kam deshalb eher selten vor, dass Runa sich um diese Zeit von allein hierherbegab, um zu beten. Doch heute hatte sie wahrhaft einen Grund.
Es war nicht das schlechte Gewissen, das sie wegen ihres sündhaften Verhaltens plagte. Sie wollte Gott nicht auf Knien um Vergebung bitten, wie es wohl die meisten anderen Schwestern in ihrer Lage getan hätten. Nein, sie wollte vielmehr dafür danken, dass ihr eine solche Liebe wenigstens einmal in ihrem Leben widerfahren war. Auch wenn diese Liebe leidvoll war, da sie niemals hätte sein dürfen, war Runa dennoch dankbar dafür.
Während des Gebets erinnerte sie sich an einen Moment aus ihrer Kindheit. Sie sah, wie Hilda ihrer Tochter Marga in der Küche erklärte, dass die wahre Liebe zwischen zwei Menschen etwas Besonderes und Seltenes sei. Damals hatte Runa das nicht verstanden, doch heute wusste sie, was die kluge Hilda damit gemeint hatte. Tatsächlich hatte Runa das Gefühl, etwas Besonderes und Seltenes zu erleben.
»Mutter, lass mich das machen. Du kommst doch kaum noch die Treppe hoch«, schimpfte Marga mit ihrer Mutter Hilda. Unbelehrbar, wie diese war, hatte sie sich gerade einen Haufen Kleider gegriffen, den sie die Stiegen nach oben tragen wollte. Bevor sie sich versah, wurde ihr das Bündel von Marga aber sogleich aus der Hand genommen.
Hildas Protest ließ nicht lange auf sich warten. »Kind, ich will nicht, dass du allein zu den beiden Rüpeln hinaufgehst. Ich weiß selbst, dass ich nicht mehr so gut zu Fuß bin, aber wenn es darum geht, diesen Burschen die Ohren langzuziehen, reichen meine Kräfte allemal aus. Lass mich dich wenigstens begleiten.«
Marga wusste, dass jeder Widerspruch sinnlos war. Auch wenn ihre Mutter in den letzten Jahren stark gealtert war, hatte sie trotz alledem nicht an Willen eingebüßt. So machten sich die beiden Frauen gemeinsam auf den Weg in die oberen Gemächer des Hauses. Schon auf den ersten Stufen hörten sie Luburgis rufen. »Marga! Marga! Wo bleibst du denn, du lahme Gans? Beweg dich gefälligst.«
Die Angesprochene ließ die Beschimpfung über sich ergehen und verdrehte bloß die Augen. Jeden Morgen das gleiche Spektakel. Irgendwann war es den beiden jungen Herren in den Kopf gekommen, und seither gab es keine Ausnahmen mehr. Johannes und Godeke verlangten von Marga, dass sie ihnen täglich die gebürstete Kleidung nach oben trug und ihnen beim Anziehen behilflich war; fast so, als wären sie echte Edelleute.
Luburgis fand diesen Einfall ganz vorzüglich. Nichts war zu gut, kein Verhalten zu übertrieben und kein Zwirn zu fein für ihre einverleibten Söhne. Alle hatten sich nach ihren Wünschen zu richten, allein das beherrschte ihren Tag. Sie war Mutter mit Leib und Seele.
Nur eine wagte es, sich regelmäßig gegen die Knaben aufzulehnen – Hilda! Auch heute wollte sie nicht, dass ihre Tochter allein zu den beiden Fünfzehnjährigen ging. Nur zu gut kannte sie die makabren Späße der Jungen, welche sie mit Vorliebe Marga angedeihen ließen.
Als die beiden Jungs erst Marga und kurz darauf Hilda erblickten, verdunkelte sich ihr vorheriges Grinsen schnell wieder. Mit Hilda im Raum konnten sie Marga schlecht auf die Weise herumschicken und angaffen, wie sie es sonst gerne taten.
Obwohl beide Jungen von nahezu gleichsam schlechtem Wesen und ähnlicher Überheblichkeit waren, unterschied sich ihr Äußeres umso mehr.
Godeke sah mit seinen dunklen Locken und dem markanten Kinn schon jetzt ausgesprochen gut aus. Er hatte bereits eine beachtliche Körpergröße erreicht, und auch sein Kreuz schien in letzter Zeit enorm in die Breite gewachsen zu sein. Niemand, der die beiden nicht kannte, wäre je darauf gekommen, dass sie dieselben Eltern hatten; und schon gar nicht darauf, dass sie Zwillinge waren!
Johannes hingegen war gerade einmal einen Fingerbreit größer als Marga. Er hatte helles, glattes Haar, dünne Arme und fast stockartige Beine. Obwohl alles an ihm wenig furchteinflößend aussah und seine Stimme noch immer klang wie die eines kleinen Jungen, spielte er dennoch stets den Anführer der beiden.
Insgeheim meinte Hilda, dass man sich vor ihm ein bisschen mehr in Acht nehmen sollte als vor seinem Bruder. Genau aus diesem Grund ging sie auch an Godeke vorbei und stellte
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