Die Frau des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
kam es allen Bewohnern des Hauses so vor, als seien sie niemals von Runa getrennt gewesen.
Ihre Besuche auf der Grimm-Insel waren auch Conrad und Luburgis nicht verborgen geblieben. Nachdem sie viele Jahre lang alles getan hatten, um Runa von ihren Eltern fernzuhalten, stellte das Verhalten ihrer Stieftochter nun eine Art Niederlage für sie dar. Nicht den kleinsten Gruß sprachen sie einander noch aus, wenn sie sich zufällig begegneten.
Doch Runa interessierte schon lange nicht mehr, was die andere Hälfte ihrer Familie dachte. Sie war überglücklich, ihre lang vermissten Eltern wenigstens vorübergehend wieder um sich haben zu können, und erwischte sich oft dabei, wie sie die Zeit zwischen den Besuchstagen kaum abwarten konnte – so sehr freute sie sich darauf.
An diesem Tage jedoch sollte alles anders kommen. Gleich nachdem sie das Haus im Katharinen-Kirchspiel betreten hatte, war es ihr aufgefallen. Diese unglaubliche Stille. Runa durchsuchte alle Räume, immer von dem Gefühl begleitet, dass hier irgendetwas nicht stimmen konnte. Dann endlich fand sie ihren Vater.
Als sie in das Kontor eintrat, hob Albert nur kurz den Kopf. Runa konnte selbst aus der Ferne erkennen, wie ausgezehrt sein Gesicht aussah. »Vater, was ist passiert? Wo sind denn alle hin? Es ist so still hier«, fragte Runa leise.
Albert atmete schwer. Wie sollte er es ihr sagen? Er wusste, Runa hatte Alheidis sehr geliebt. Unfähig, es besser oder schonender zu umschreiben, sprach er mit gedämpfter Stimme: »Alheidis und das Kind sind tot.«
Runa brauchte einen Moment, um die Worte ihres Vaters zu begreifen. Dann schlug sie die Hand vor den Mund und schloss die Augen. Sofort quollen Tränen hinter ihren geschlossenen Lidern hervor. Sie wollte und konnte es einfach nicht glauben. Doch nicht Alheidis!
Kurz darauf begann ihr ohnehin schon angeschlagener Magen vollends zu rebellieren. Ohne Vorwarnung schoss es durch ihren Körper und wollte heraus. Gerade noch schaffte sie es, vor die Tür zu hasten, um sich dort zu übergeben. Als sie wieder zurück in die Diele kam, blickte sie plötzlich direkt in das Gesicht Walthers. Leise wie immer hatte er sich von hinten angeschlichen. Nun stand er einfach da und sah sie an; fast so, als wäre sie ein Geist. Eigentlich tat er das immer, und trotzdem fühlte sie sich niemals unbehaglich in seiner Gegenwart. Dennoch hatte sich Runa schon häufig gefragt, warum er sich immer so seltsam benahm.
»Runa, ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte er besorgt.
Gerührt von seiner Anteilnahme und etwas beschämt, weil er sie in diesem Zustand sah, senkte sie den Blick. Sie mochte den etwas sonderbaren Walther sehr, doch ihr war nicht nach einer Unterhaltung. »Es geht schon«, wiegelte sie ab. »Ich habe wohl etwas Falsches gegessen.« Runa wollte sich mit aller Kraft zusammenreißen. Sie wollte nicht vor ihm weinen. Doch sosehr sie auch gegen ihre Tränen anzukämpfen versuchte, es gelang ihr einfach nicht, sie zurückzuhalten. Unkontrolliert begann sie zu schluchzen. Sie hatte Alheidis wirklich geliebt. Beide Frauen waren von Anfang an sehr vertraut miteinander gewesen. Dass sie nun tot sein sollte, wollte Runa einfach nicht begreifen. Ihr Schultern fingen an zu beben, und sie begann zu weinen.
Walther zerriss es fast das Herz, Runa so zu sehen. Ihr sonst immer lächelndes Gesicht war von Tränen nass. So hatte er sie noch nie gesehen. Ansonsten kannte er alle ihre Züge. Wie oft schon hatte er heimlich an sie gedacht? Wie oft ihr Gesicht in den Sand gemalt oder ihre Lieblichkeit in seinen Reimen versteckt? Niemand wusste davon, dass sie seine Auserwählte war; nicht einmal Runa selbst. Nun stand sie vor ihm, und sein Herz hätte erfüllt sein können von Freude, doch die Frau, die er so innig liebte, weinte.
Natürlich trauerte auch er um Alheidis. Jeder hatte sie gemocht, und auch er selbst würde sie wahrhaft vermissen, doch nun, da er Runa nah war, vergaß er alles andere um sich herum. Er vergaß, dass sie eine Klosterschwester war, und er vergaß, dass es ungebührlich war, als unverheirateter Mann mit einer unverheirateten Frau allein zu sein. Er vergaß auch, dass er seinen Gefühlen nicht einfach nachgeben durfte, und ging langsam auf sie zu.
Sie hatte ihr Gesicht in den Händen vergraben und konnte nicht sehen, dass er sich ihr bis auf eine Handbreit genähert hatte. Im nächsten Moment schloss er die viel kleinere Runa in seine tröstenden Arme. Das Glück durchfloss ihn warm und wohlig. Seine
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