Die Frau des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
Wahrheit.«
»Ach Kind, was soll ich sagen …« Sie rang die Hände und gestand schließlich: »Luburgis lässt niemanden außer der Amme in die Kammer der Kleinen. Sogar ihr eigenes Essen lässt sie sich dort servieren.«
Ragnhild schloss die Augen. Sie konnte nur erahnen, was genau die Worte Hildas bedeuteten, doch schon jede Mutmaßung war grauenvoll. Tief in sich hatte sie bereits etwas Ähnliches befürchtet, und nun war es Wirklichkeit geworden. Ragnhild wusste, dass sie um ihr eigen Fleisch und Blut würde kämpfen müssen. Was sich Luburgis einmal zu eigen gemacht hatte, das gab sie so schnell nicht wieder heraus. Doch Ragnhild schwor sich, nicht aufzugeben. Wenn sie sich auch sonst fast alles von ihr gefallen lassen musste: Ihre Kinder würde sie dieser Schlange niemals freiwillig überlassen.
Hilda wurde unruhig. Noch immer hielt Ragnhild die Augen geschlossen und war in Gedanken versunken. Nun hielt die Magd es nicht mehr aus.
»Kind, es gibt noch etwas, was ich dir sagen muss. Es belastet mein Herz, und auch wenn ich dich zunächst gerne geschont hätte, ich will es nicht länger mit mir herumtragen.«
Ragnhild schlug die Augen auf und sah sie erwartungsvoll an. »Was ist es? Sprich!«
»Es geht um Albert. Er ist fort.«
Ragnhilds Herz klopfte bis zum Hals. »Was meinst du damit, Hilda? Wo ist er hin und wann kommt er zurück?«
»Conrad hat ihn ganz plötzlich nach Flandern geschickt, um Tuche zu holen. Alles ging so schnell, Albert hatte gar keine Wahl. Kurz bevor du ins Kindbettfieber gefallen bist, hat er den Auftrag erhalten. Schon am nächsten Morgen musste er Hamburg verlassen. Vor seiner Abreise trug er mir noch auf, dir zu sagen, dass er alles versuchen werde, um noch vor dem Weihnachtsfeste zurück zu sein.«
Nach diesen Worten schien Ragnhild ihr mit einem Mal noch dünner und verletzlicher auszusehen als zuvor. »Ich bin mir sicher, dass er es schaffen wird, Kleines«, versuchte Hilda die Freundin aufzumuntern. »Bald ist er wieder zurück, ganz bestimmt.«
Diese Nachricht traf Ragnhild vollkommen unvorbereitet. Sie fragte nicht nach den Hintergründen. Alles, was zählte, hatte Hilda bereits ausgesprochen. Sie war allein. »Wieso gerade jetzt, Hilda? Warum muss er mich jetzt allein lassen, da ich ihn am meisten brauche?«
Hilda streichelte ihre Hand, wusste aber auch nichts mehr zu sagen.
»Wie lange soll ich dieses Leben noch führen? Jeden Tag dieser Kampf, und nun bin ich auch noch ganz allein.« Während sie sprach, rannen Ragnhild Tränen übers Gesicht. »Albert wird sicher für Wochen fortbleiben. Sage mir, woher soll ich die Kraft nehmen, um Luburgis die Stirn zu bieten? Ich fühle mich so hilflos, Hilda.«
Ragnhild ließ die Tränen einfach laufen, bis sie hemmungslos weinte. Während der ganzen Zeit strich Hilda ihr über das Haar, als wäre sie ein kleines Kind. Erst viel später beruhigte Ragnhild sich wieder, und noch viel später fiel sie in einen erlösenden Schlaf.
9
Als sie endlich in den Hafen Gents einfuhren, konnte Albert seine Erleichterung kaum verbergen. Sie hatten es geschafft, waren endlich am Ziel ihrer Reise. Das Wetter hatte gehalten und außer ein paar unangenehm eisigen Regenschauern kein weiteres Unheil gebracht. So Gott wollte, würde er auch auf der Rückfahrt seine Hand über sie halten und die Resens tatsächlich noch vor dem Weihnachtsfeste zurück nach Hamburg bringen.
Albert befand sich unter Deck, als sie Gent erreichten, und trampelte ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Seine Gedanken waren davon beherrscht, möglichst schnell einen Anlegeplatz zugeteilt zu bekommen, um gleich darauf seine Geschäfte abzuwickeln und umgehend wieder aufs Meer hinausfahren zu können. Doch er hatte nicht damit gerechnet, was ihn hier erwartete.
Als er es nicht mehr im Inneren des Schiffs aushielt und nach oben an die Reling trat, klappte unvermittelt sein Mund auf. Die Erinnerungen des kleinen Jungen Albert stimmten nicht mehr mit dem überein, was sich hier den Augen des Mannes offenbarte. Gent hatte sich verändert, und Albert hatte solch einen Überfluss noch niemals zu Gesicht bekommen. Seine innere Unruhe wurde beim Anblick der Stadt für eine kurze Zeit verdrängt.
Die Zufahrt zum Hafen war gesäumt von den prachtvollen treppenartigen Fassaden der Genter Kaufmannshäuser, die so ganz anders aussahen als die der Hamburger. Viele der Bauten waren aus Stein und nicht zumeist aus Balken und Lehmbewurf, wie Albert es aus seiner Heimatstadt
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