Die Frau die nie fror
fortsetzt. Wir folgen der Bewegung in die Diele und dann ins Esszimmer, bis der letzte Dominostein gefallen ist und das Klackern abrupt endet.
Noah seufzt glücklich über seine Leistung, und ich strahle vor Freude. Der Anfang eines guten Tages. Ich tische arme Ritter auf. Er verschlingt die erste Portion und verlangt nach mehr, leert zwei Gläser Orangensaft, rülpst und schenkt mir eines seiner seltenen und wunderbaren Lächeln.
Ich hüte mich zu fragen, warum er, der gerade mal ein Jahrzehnt auf dieser Erde verbracht hat – einen Großteil davon vor Einsetzen der Vernunft –, auf war und mitten in der Nacht stundenlang und wie besessen Hunderte kleiner schwarzer Rechtecke aufgestellt hat. Wir alle haben unsere Methoden, dieses Leben zu bewältigen. Noahs Abwehrmechanismen sind vielleicht ausgeklügelter als die anderer Kinder, sie haben aber auch erheblich mehr zu tun. Nach einer langen Diskussion über die Wahrscheinlichkeit von Leben auf anderen Planeten und einer zweiten über die Herausforderung, Tunnel unter Wasser zu bauen, nach einer Banane, einer heißen Schokolade und einer Partie Galgenmännchen zischt er ab, um sich in seinen Laptop zu vertiefen.
Wenige Minuten später ist er allerdings schon wieder zurück. »Du hast es gefunden!« Er hält sein Mobiltelefon hoch.
»Oh, ja, stimmt. Es lag zwischen den Kissen der Couch. Muss wohl aus deiner Tasche gerutscht sein, als du das letzte Mal hier warst. Tut mir leid. Ich wollte dich deswegen eigentlich anrufen.«
»Jetzt kann ich Max sagen, dass ich recht hatte. Es war hier!«
»Du hast Max erzählt, du hättest dein Handy hiergelassen?«
»Mhm-mh. Er hat dauernd danach gefragt. Er ist ein fürchterlicher Kontrollfreak.«
»Kontrollfreak?« Komisch, diesen Ausdruck aus dem Mund eines Fünftklässlers zu hören.
»Das sagt Mom immer.«
»Wirklich? Sie sagt das über Max?«
»Nein, ich sage das über Max. Sie sagt es über jeden, den sie nicht leiden kann.«
»Oh, ich verstehe. Ich schätze, du magst Max nicht. Warum eigentlich nicht?«
»Er braucht immer so lange im Bad, und meine Mom benimmt sich ganz komisch, wenn er da ist. Außerdem riecht er nicht gut.«
»Ja, ist mir auch schon aufgefallen. Alles drei, eigentlich.« Pause. »Ist er nett zu dir?«
»Denke schon.«
»Ich frage mich, warum er sich so für dein Handy interessiert.« In dem Moment, als die Worte meinen Mund verlassen, fällt mir wieder ein, dass er schon auf der Beerdigung mit Noah über das Mobiltelefon gesprochen hat. Was könnte er gewollt haben? Dann erinnere ich mich an noch etwas – Noahs Walknochen. Ich glaub’s einfach nicht, dass ich nicht schon darauf gekommen bin, als Parnell mir das Walbuch gezeigt hat. Kann es sein, dass die Geschichte, die Ned seinem Sohn erzählt hat, der Wahrheit entspricht, zumindest zum Teil?
»Noah, du hast Max doch nicht deinen Walknochen gezeigt, oder?«
»Nie im Leben! Ich hab ihn in der Schachtel versteckt, weißt du nicht mehr? Und meine Bilder werde ich ihm auch nicht zeigen.«
»Welche Bilder?«
»Die mein Dad mir geschickt hat. Weißt du, die sind echt gruselig.« Er drückt ein paar Tasten seines Telefons, gibt es mir und klebt an meiner Schulter, während ich sie mir ansehe.
Auf dem Display ein körniges, graues, verschwommenes Foto. Ich sehe genau hin und erkenne, dass es ein in Nebel gehüllter Strand ist. Eine Reihe wahllos verteilter, sanft abgerundeter Felsbrocken, die halb vom feuchten, dunklen Sand bedeckt sind. Keine Menschen, keine Orientierungspunkte. Nur ein Haufen weißer Objekte, die aus dem Sand aufragen. Manche sind gerade, andere krumm. Manche enden in einer Spitze, andere nicht. Ihre Höhe kann ich nicht schätzen, da sich auf dem Bild nichts befindet, mit dem man vergleichen könnte. Ich habe keine Ahnung, was das ist. Ich kann nur raten: blattlose junge Birken, die in Reihen gepflanzt sind – eigentlich eher in einer Art Raster. Ich zähle sieben in der Breite, allerdings ist das lediglich der Bereich, der vom Kamerawinkel abgedeckt ist.
»Von deinem Dad, ja?«
Noah nickt. »Hat er mit seinem Handy gemacht.«
»Gibt’s noch mehr?«
Er zeigt mir zwei weitere, die aber fast identisch sind. Ich kann keinerlei Einzelheiten ausmachen, die für ein Verständnis der Bilder hilfreich wären. Aber da ist ein Datum – 7. August. Das war kurz bevor Ned Ocean Catch verließ. Die Fotos wurden im Abstand von wenigen Sekunden geschossen.
Ein paar merkwürdige, willkürliche Dinge verhaken sich in meinem
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