Die Frau die nie fror
kalt. Ich gehe in die Küche, um meine Tasse nachzufüllen. Es ist zehn, normalerweise viel zu spät für Koffein, aber ich habe die letzte Nacht überhaupt nicht geschlafen und bin nun so müde, dass mich vermutlich nichts wach halten kann. Ich toaste einen Bagel und schneide mir ein Stück Melone ab. Man kann nicht oft genug frühstücken. Als ich gegessen habe, gehe ich duschen und ziehe mir dann Jogginghose und T-Shirt an. Ich flechte meine feuchten Haare, damit sie gewellt sind, wenn sie trocknen, und gieße das Usambaraveilchen auf der Fensterbank. Ich denke, weiß aber nicht, was. In meinem trägen Hirn rotieren immer nur dieselben Worte: Märchen. Braut-Prinzessin . Dann fällt der Groschen.
Ich gehe zurück an meinen Computer, und nach wenigen Tastenanschlägen bin ich wieder bei der Story aus dem Boulevardblatt über Bob Jaegers schizophrene Frau, die ich schon kenne. Sie ist mit einem Video verlinkt, das im Juni 2009 in den Lokalnachrichten eines Fernsehsenders gebracht wurde.
Jetzt wird’s interessant: Offensichtlich bestand Jaegers Frau Caridad die ersten Monate ihrer Behandlung in der Klinik auf Cape Cod darauf, geistig gesund zu sein. Ihre Appelle an die Klinikverwaltung, die Beschwerdestelle der Ärztekammer und das Büro des Gouverneurs blieben unbeantwortet. Ihre Einwanderereltern waren nicht in der Lage, für eine angemessene Unterstützung zu sorgen. Doch ihr Flehen hörte nicht auf. Es gelang ihr, von einem Münzfernsprecher in der Klinik einen örtlichen Fernsehsender anzurufen. Dem Kamerateam des Senders, das in der Klinik erschien, wurde der Zutritt verweigert, aber man entdeckte sie hinter einem Fenster im zweiten Stock, gegen dessen Scheiben sie hämmerte, was etwa zehn Sekunden auf Video mitgeschnitten wurde, bevor man sie wegführte. Der Sender brachte hinterher einen kurzen Beitrag in den Nachrichten, der Farbfotos ihrer noblen Schickimicki-Hochzeit, krasse Aufnahmen der niedergebrannten Villa und ein dunkles, körniges Bild ihres verzerrten Gesichts hinter dem vergitterten Klinikfenster nebeneinanderstellte. Ihr Ehemann war zu keinem Kommentar bereit, ihr Arzt nicht zu erreichen.
Die Boulevardblätter griffen die Geschichte auf, fügten Paparazzi-Fotos des Ehemannes hinzu, der auf Yachten und Golfplätzen entspannte. Die internationalen Beteiligungen seines Mischkonzerns waren in einer Seitenleiste aufgeführt, dazu Schätzungen seines Vermögens. Kurz darauf gab er ein öffentliches Statement ab: Die Krankenakte belege konkludent, dass bei seiner Frau akute Schizophrenie diagnostiziert worden sei. Sie erhalte die beste und humanste Behandlung, die zu haben war. Das alles sei eine tragische und zutiefst private Familienangelegenheit.
Inzwischen bin ich davon überzeugt, dass die Patientin in Parnells jüngstem Artikel und Caridad Jaeger ein und dieselbe Person sind. Ich muss wissen, wie und warum er auf sie gekommen ist und ob nur zu ihr oder auch zu Bob eine Verbindung besteht. Welchem Jaeger gehört das Walbuch? Ist Russell Parnell vielleicht sogar Teil von Jaegers Team?
Mein einziger Anhaltspunkt: ein Gebrauchtwarenladen in Falmouth, MA . Ich suche und finde heraus, dass es in Falmouth nur einen einzigen Gebrauchtwarenladen gibt. Fahrzeit: eine Stunde, siebenundzwanzig Minuten. Ich rufe im Büro an, hinterlasse eine Nachricht, dass ich am nächsten Tag nicht reinkommen werde, und stelle zwei Wecker auf sechs Uhr, damit ich auch ganz sicher wach werde.
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Das Heavenly Afterlife ist unweit des Stadtzentrums in einer ehemaligen Scheune untergebracht. Unmittelbar hinter der breiten Eingangstür werden Kunden von einer Schaufensterpuppe begrüßt, die Hüften schräggestellt, die Hand zu einem Paradewinken à la Queen Elizabeth erhoben. Die Schaufensterpuppe trägt eine Nerzstola, ellbogenlange weiße Handschuhe und einen Pillbox-Hut mit halbtransparentem Schleier. Sonst nichts. Um sie herum drängen sich ein John-Deere-Rasenmäher, ein alter Schlitten und ein eins zwanzig großer, aufblasbarer Osterhase mit fetten Hasenzähnen. Vielleicht nicht gerade das beste Arbeitsumfeld für jemanden, der versucht, die Bodenhaftung nicht zu verlieren. Aber was weiß denn ich schon.
Im Inneren erstrecken sich vier oder fünf Gänge aus dem hellen vorderen Bereich bis in einen im Schatten liegenden hinteren Teil. Gebrauchte Lampen und Mixer, zerfledderte Bücher und Spiele, rissige Statuen und der Himmel weiß was drängen sich auf Tischen. Teppiche, Möbel und Küchengeräte sind
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