Die Frau, die niemand kannte: Thriller (German Edition)
der Mitte eine scharfe Kurve, dann noch eine, bevor sie auf die von hohen Steinmauern gesäumte Straße führte, die ebenfalls stark abfiel. Vorsichtig lenkte Kate den Wagen durch die engen, vom Regen rutschigen Kopfsteinpflastergassen. Im Radio liefen die Morgennachrichten, und obwohl Kate nur ungefähr ein Viertel der Vokabeln kannte, stellte sie befriedigt fest, dass sie sie im Großen und Ganzen verstand. Die Jungs auf dem Rücksitz waren in eine lebhafte Diskussion darüber vertieft, welche Obst- und Gemüsesorten sie am liebsten schnippelten. Jake mochte die Äpfel, Ben bevorzugte erstaunlicherweise Kiwi.
Inzwischen hatte Kate jenen Zustand der Müdigkeit erreicht, in dem man zu halluzinieren glaubt – ein Gefühl, an das sie sich noch aus der Zeit erinnern konnte, als die Jungs Babys gewesen waren und sich um vier Uhr früh die Seele aus dem Leib geschrien hatten. Und aus der Zeit ihrer Missionen, bei denen sie um drei Uhr früh in Häuser eingebrochen oder um fünf Uhr in Flugzeuge gestiegen war, um von irgendwelchen improvisierten Landebahnen im Dschungel zu starten.
Sie ging mit den Jungs durch den morgendlichen Nebel über das Schulgelände, vorbei an Bekannten, die sie mit einem Lächeln oder einem Nicken grüßte. Sie blieb kurz stehen, um mit Claire zu plaudern. Amber stellte ihr eine Amerikanerin vor, die gerade erst hergezogen war – eine sommersprossige junge Frau aus Seattle, deren Mann bei Amazon arbeitete, das seinen Sitz in der umgebauten alten Brauerei in Grund hatte. Kate versprach, sich kurz vor Schulschluss mit ihnen auf einen Kaffee zu treffen. Sechseinhalb Stunden blieben ihr noch bis dahin, ihrer aller tägliches Zeitfenster, um Einkäufe zu erledigen, zu putzen, einen Film zu sehen oder mit dem Tennislehrer ins Bett zu gehen. Um ihr heimliches Leben zu führen, woraus es auch immer bestehen mochte. Oder um sich einfach auf einen unverfänglichen Kaffee mit anderen Müttern zu treffen.
Sie fuhr den Hügel wieder hinunter, über die Alzette und gelangte schließlich in die haute ville . Sie fuhr über die Kreuzung mit dem Palast, vorbei an dem dicken arroganten Wächter mit der getönten Brille und parkte in der Tiefgarage.
Es hatte wieder angefangen zu regnen. Kate machte sich auf den Weg durch das Zentrum, durch die Straßen, die sie inzwischen so gut kannte, jeden einzelnen Laden und seinen Besitzer.
Vor St. Michel stand eine alte Nonne. » Bonjour «, sagte sie zu Kate.
» Bonjour .« Kate betrachtete sie eingehend. Sie trug eine rahmenlose Brille und einen dunklen Filzmantel über ihrem Habit. Eigentlich war sie gar nicht alt, höchstwahrscheinlich kaum älter als Kate.
Der Regen wurde stärker. Kate zog ihren Mantel enger um sich.
Kate erklomm die Aussichtsplattform der Festung. Unter der Stadt verliefen Hunderte von Tunneln, einige sogar groß genug für Pferdegespanne, Möbel oder Soldatenregimenter. Während der diversen Kriege war die Bevölkerung in diese Tunnel geflohen – sie hatten sich dort unten sogar regelrecht häuslich eingerichtet –, um Schutz vor dem Gemetzel zu suchen, das über ihnen stattfand.
Auf der Plattform stand eine Frau, das Gesicht Richtung Nordwesten gewandt.
»Ihr irrt euch«, sagte Kate.
Die Frau – Julia – wandte sich zu ihr um.
»Und ihr müsst uns in Ruhe lassen.«
Julia schüttelte den Kopf. »Du hast das Geld gefunden, stimmt’s?«
»Herrgott noch mal, Julia.« Kate hatte Mühe, nicht die Beherrschung zu verlieren. Sie war keineswegs sicher, dass es gelingen würde. »Es ist ganz einfach nicht wahr.«
Julia kniff die Augen zusammen. »Du lügst.«
In ihrer gesamten Laufbahn hatte Kate in einer Auseinandersetzung kein einziges Mal die Kontrolle verloren. Doch als die Jungs noch klein gewesen waren, hatten sie ihre Nerven gehörig strapaziert und sie regelmäßig dazu gebracht, sie anzuschreien. Deshalb kannte sie die Vorboten nur allzu gut – diese eigentümliche Enge in der Brust, die einem Ausbruch unmittelbar voranging.
»Und ich werde es auch beweisen«, fügte Julia hinzu und trat einen Schritt auf Kate zu. Um ihre sorgfältig geschminkten Lippen spielte ein unsäglich blasiertes Lächeln.
Kate hob abrupt den Arm und verpasste ihr eine schallende Ohrfeige. Ein großer, leuchtend roter Fleck erschien auf Julias regennasser Wange.
Julia presste ihre Hand auf die schmerzende Stelle und starrte Kate an. Ein Anflug von Befriedigung lag auf ihren Zügen, ehe sich ihr Mund zu einem Lächeln verzog.
Ohne
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