Die Frau, die niemand kannte: Thriller (German Edition)
gebraucht zu werden. Unbedingt sogar. Sie hatte sich schon immer zu Männern hingezogen gefühlt, die sich vor allem für sie entschieden hatten, weil sie sie brauchten. Und den, der sie am allermeisten brauchte, hatte sie geheiratet.
Der andere Mann starrte sie an. Sie starrte zurück, herausfordernd. Er sollte wissen, dass sie ihn einzuschätzen versuchte.
Sie kam nicht umhin, sich zu fragen, wie es wohl wäre, mit einem Mann wie ihm zusammen zu sein; einem Mann, der sie nicht brauchte, sondern sie einfach nur wollte.
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Kate hatte keine Ahnung, woher die dritte Flasche Champagner plötzlich gekommen war. Sie hatte nicht bemerkt, dass jemand sie bestellt oder an der Bar geholt hatte, doch es konnte unmöglich erst die zweite sein. Ihr war heiß, sie war durstig und nahm einen tiefen Schluck aus ihrem Glas, dann noch einen, ehe Julia sie wieder in die wogende Menge auf der Tanzfläche zog, wo die Tanzenden sich im Takt der Bässe bewegten, während das Stroboskoplicht über ihre Köpfe hinwegzuckte und von den Spiegelquadraten der Discokugel reflektiert wurde.
Dexter war in ein Gespräch mit einer atemberaubend schönen jungen Frau vertieft, die im französischen Fernsehen die Nachrichten verlas. Sie wollte unbedingt als Korrespondentin nach Washington wechseln und über politische Themen berichten, deshalb löcherte sie Dexter mit allen möglichen Fragen, die er nicht beantworten konnte. Kate nahm ihm nicht übel, dass er wie gebannt an ihren Lippen hing und sich in der Zuwendung einer jungen Frau von geradezu überirdischer Schönheit aalte.
Sie waren alle sturzbetrunken.
Julia hatte einen weiteren Knopf ihrer Bluse geöffnet und damit eindeutig die Grenze zwischen sexy und exhibitionistisch überschritten. Andererseits befand sich mindestens die Hälfte der Frauen im Club in unterschiedlichen Stadien der Nacktheit.
Kate löste den Blick von Julia und sah sich um. An der hinteren Wand saß Bill neben einer jungen Frau, die sich ihm zugewandt hatte und sein Ohrläppchen zu liebkosen schien; vielleicht täuschte sie sich aber auch.
Kate sah Julia an, deren Augen halb geschlossen waren, als wäre sie in ihrer eigenen Welt versunken.
Als sie wieder zu Bill hinübersah, trennten nur wenige Zentimeter sein Gesicht vom Hals der jungen Frau. Sie lächelte und nickte, worauf Bill sie bei der Hand nahm und wegführte.
Julia hatte die Augen geöffnet, doch sie sah nicht in Richtung ihres Mannes.
Kate beobachtete, wie Bill mit dem Mädchen in einem der Flure verschwand, die man in jedem Club und in jeder Bar fand. Sie führten in verschwiegene Hinterzimmer, Wäschekammern oder Lagerräume, an private Orte, die Menschen spät am Abend aufsuchten, um zu knutschen und zu fummeln, Reißverschlüsse herunterzuziehen und Höschen beiseitezuschieben, atemlos und trunken vor Lust.
Kate blinzelte, ganz langsam, und machte für einen Moment die Augen zu, während die lauten Techno-Beats in ihren Ohren widerhallten. Julia tanzte mit einem großen, besorgniserregend hageren jungen Mann, den Mund halb geöffnet. Julia legte eine Hand auf ihren Bauch, ehe sie zu ihrer Brust wanderte und sie umfing. Sie ließ sie wieder sinken, an ihrem Bauch, ihren Hüften, ihrem Schenkel entlang. Sie hatte den Kopf in den Nacken gelegt und reckte ihren schweißglänzenden Hals, ohne den Mann anzusehen, mit dem sie tanzte. Stattdessen glitt ihr Blick durch den Raum, doch noch immer nicht in die Richtung, in der ihr Mann verschwunden war, sondern, wie Kate bemerkte, zu Dexter.
Es war halb vier Uhr früh.
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Der Boulevard lag verlassen da. Keine Türsteher, keine aufreizenden Mädchen, kein Taxi, keine Menschenseele weit und breit. Doch plötzlich bauten sich wie aus dem Nichts zwei Typen vor ihnen auf, mit Kapuzenshirts und weiten Hosen, gepierct und mit zotteligen Bärten. Einer drängte Dexter gegen die Hauswand, während der zweite mit jener typisch hektischen Geste des nervösen jugendlichen Anfängers eine Waffe aus der Tasche zog.
Die nächsten Sekunden zogen wie eine abgehackte Bilderfolge vor Kates Augen vorüber, flüchtige Momentaufnahmen, die so schnell verschwanden, wie sie gekommen waren – Dexters panisches Gesicht, Julias starres Entsetzen und Bills eindrucksvoll teilnahmslose Ruhe. »Je vous en prie«, sagte er. »Un moment.«
Kate stand ein Stück abseits vom Geschehen, unbeachtet. Es wäre ein Kinderspiel. Sie sah klar und deutlich vor sich, was sie tun müsste: ein kurzer Schlag gegen die Schläfe, dann ein
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