Die Frau im gepunkteten Kleid
vergangenen und der künftigen, so ahnungslos sein konnte, was das Hier und Jetzt betraf. Sie sagte: »In den Hotels wird man sich um Sie kümmern, aber es wäre vernünftig, ein paar Pullover und einen Regenschirm mitzunehmen.«
Während sie sprach, stand Harold auf und sagte, er gehe in sein Zimmer. Er streckte eine Hand aus, als wollte er ihr übers Haar streichen, ging dann aber unvermittelt weg. Sie sah zu, wie er sich an den Tischen vorbeischob und in die Nacht hinaustrat.
Mrs Weiner rückte näher. In einer halben Stunde finde in einem Raum neben der Rezeption eine Versammlung von Gleichgesinnten statt, Mitglieder einer Gruppe, die unterwegs zu einer theosophischen Konferenz in Arroyo Grande sei. Das Gespräch
heute Abend widme sich dem Bemühen, verschüttete, vergessene Ereignisse ans Tageslicht zu ziehen. »Die Menschen, die wir einmal waren«, deklamierte Mrs Weiner, »an die wir uns nicht mehr erinnern, bergen die meisten Geheimnisse.« Der Eintritt sei frei. Rose würde es bestimmt anregend finden.
Rose beschloss hinzugehen, schon weil sie nichts Besseres zu tun hatte. Nur neun Leute waren in das Nebenzimmer gekommen, alles Frauen bis auf den Ehemann mit dem Ketchupfleck und einen dicken Mann mit einer Fliege, der neben Mrs Weiner saß.
Rose nahm ganz hinten Platz, rückte dann aber weiter nach vorn; sie wollte keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen, weil sie allein dasaß. Die Sitzung begann mit einem Gebet zu Gott in der Höhe, darauf folgte eine Darbietung von »I Want To Hold Your Hand«, ohne Begleitung gesungen von einer älteren Dame in einer pechschwarzen Perücke. Rose hätte gern gelacht. Dann zeigte der Mann mit der Fliege auf eine dünne Gestalt in einem blauen Kleid. »Sie brauchen nicht zu stehen«, sagte er, »ich weiß, was Sie plagt. Sie sind krank.«
»Ja, ja«, quiekte das blaue Kleid und hielt sich mit Mühe aufrecht. »Helfen Sie mir.«
»Es ist Krebs«, erklärte die Fliege mit klangloser Stimme und ohne jedes Mitleid. »Begreifen Sie ihn als eine Fehlfunktion der Zellen, nicht als Strafe von Gott. Sie können nichts mehr tun als froh sein, dass Ihnen noch Zeit bleibt, die letzten Konflikte Ihres Lebens aus der Welt zu schaffen. Halleluja.«
»Danke, danke«, rief das blaue Kleid, offenbar erfreut, dass das Ende so nahe war.
Rose glaubte fest, dass die Frau nicht authentisch war, sondern eingeschleust, um die Hellsicht der Verantwortlichen zu demonstrieren. Auch das zweite und dritte Opfer hielt sie nicht für echt, obwohl sie deren verschüttete Erinnerungen wunderlicher fand, eher geeignet, die Einbildungskraft zu befeuern. Nummer zwei wurde von Mrs Weiner gefragt, ob es in ihrer Vergangenheit etwas gebe, das mit einem Mann auf Krücken zu tun habe.
»Er ist nicht groß, trägt einen roten Schal um den Hals … nein, grün, nicht rot, und versucht Ihnen etwas zu sagen.«
Nummer zwei antwortete: »Ich kann mich an niemanden auf Krücken erinnern.«
»Denken Sie nach«, spornte sie Mrs Weiner an. »Ich sehe ein hohes Gebäude und einen Wolkenwirbel. Nein … nein, es ist Rauch … und ich sehe eine Gestalt am offenen Fenster stehen.«
»Oh… oh…«, rief Nummer zwei und riss in plötzlichem Entsetzen die Arme hoch. Sie erinnerte sich an ein Feuer und daran, dass ihr Großvater sich aus dem Fenster geworfen hatte, zum Glück nur zwei Stockwerke über einem breiten Sims. Der Großvater überlebte mit einem steifen Bein, es war also keine richtige Katastrophe. Die entscheidende Frage, was er ihr sagen wollte, blieb allerdings unbeantwortet.
Nummer drei war Ausländerin und schwer zu verstehen. Sie trug baumelnde Ohrringe. Der Mann mit der Fliege sprach von einem alten Auto, einer Panne und einem Kind, das zusah, wie das Auto eine Straße entlanggeschoben wurde. Die Ausländerin schüttelte den Kopf, und das Metall an ihren Ohrläppchen klimperte. Es gebe eine Kreuzung, soufflierte die Fliege, und ein Mann sei zu Hilfe gekommen. Dann habe er eine kreischende Frau ins Gebüsch gezogen und eine Straftat begangen. Das Kind habe nur Beine ohne Strümpfe gesehen, die im Laub zappelten.
Eine Pause wurde anberaumt, damit das Kind, nunmehr eine Frau mittleren Alters, sich erholen konnte. Das sei ihre Mutter gewesen, war sie herausgeplatzt, sie habe gesehen, wie sie ins Unterholz gezogen worden sei. Papiertaschentücher lagen bereit.
Rose wusste, dass sie als Nächste dran war. Sie blieb, weil sie dieses bescheuerte Vorspielen ausgegrabener Erinnerungen amüsant fand. Was
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