Die Frau ohne Gesicht
den Freiern nichts über sich erzählen. Die Türen in der Wohnung ließen sich nicht abschließen, nicht einmal die Klotür. Von dem kurzen Abstecher zu dem Eckladen abgesehen, durften sie das Haus nicht verlassen. Jeder Kontakt zu Außenstehenden war verboten.
»Sie haben Waffen, aber die brauchen sie gar nicht. Wir wissen, wozu sie fähig sind.«
Die Frauen in dem Bordell in der Creed Lane waren schlimmer dran.
»Wegen der Lage, mitten in der City.«
»Wie ist es überhaupt möglich, dass es dort ein Bordell gibt?«, wunderte sich Lia.
In der City befanden sich vorwiegend große Geschäftsgebäude und Zentralbehörden. Wie konnte man dort eine solche Wohnung unterhalten? Allein die Mieten waren schwindelerregend.
»Es gibt mindestens ein Dutzend Bordelle in der City, in den Kellern und Hinterzimmern von Firmen«, erklärte Elza.
Die Creed Lane lag in einer Fußgängerzone. Vom Hof eines der Häuser kam jeden Morgen ein großer schwarzer Lieferwagen. Er brachte die streng bewachten Prostituierten zu einem Büro, in dessen zwei Hinterzimmern sie die Freier empfingen. Die strömten geradezu herbei: Geschäftsleute, Juristen, Service-Personal.
»Diese Frauen führen ein schreckliches Leben«, sagte Elza. »Sie müssen die Männer wie am Fließband bedienen.«
Die Frauen durften das Büro nicht verlassen, sie hatten außer den beiden Hinterzimmern nur eine Toilette zur Verfügung. Eine Pause war ihnen nur sonntags vergönnt, wenn die Büros in der City geschlossen waren.
Deshalb sei Anita Klusa geflohen, meinte Elza. Es sei einfach zu schrecklich gewesen.
Als Lia und Elza in Lewisham ausstiegen, sah Lia, dass Paddy ihnen folgte. Erst da wurde ihr bewusst, wie aufgewühlt sie war: Sie hatte während der Zugfahrt kaum Luft bekommen, und das Herz schlug ihr bis zum Hals.
Vom Bahnhof zur Sangley Street benötigten sie zu Fuß zehn Minuten. Nun waren fünfunddreißig Minuten vergangen, also konnten sie sich höchstens zwanzig Minuten im Haus aufhalten.
Lia zeigte auf das Haus mit der Nummer Sieben. Elza betrachtete die von innen verhängten Fenster und nickte.
Dicht hintereinander gingen sie zur Rückseite des Hauses. Paddy hatte Lia erklärt, der Weg durch den Garten hinter dem Haus sei die günstigste Option. Lia vergewisserte sich, dass in der Nachbarschaft niemand zu sehen war, bevor sie das Gartentor aufklinkte.
Langsam näherten sie sich der Hintertür. Lia drückte sich neben der Tür an die Wand und bedeutete Elza, es ihr gleichzutun. Auch zu dieser Vorsichtsmaßnahme hatte ihr Paddy geraten: Falls aus dem Haus geschossen wurde, standen sie nicht in der Schusslinie.
Das Gebäude wirkte völlig unbewohnt. Vor den Fenstern hingen Verdunklungsvorhänge. Nichts rührte sich.
Lia wollte anklopfen, doch Elza kam ihr zuvor.
» Labdien! «, grüßte sie mit lauter Stimme.
» Labdien! Te Elza Berklava. «
Sie warteten einen Moment. Im Haus blieb es still.
Elza wiederholte den Gruß und ihren Namen.
Stille. Lia betrachtete die anderen Reihenhausgärten. Das nasskalte Dezemberwetter lockte niemanden nach draußen. Nur Paddy stand in einiger Entfernung am Zaun.
Elza sah Lia an und redete dann wieder auf die Tür ein. Und obwohl Lia nur den Namen Daiga verstand, begriff sie, was Elza sagte.
Daiga ist tot.
Die Stille hielt noch einige Sekunden an. Dann schrie unmittelbar hinter der Tür eine Frau auf.
Die Zeit stand still. Es gab nur das Weinen der Mutter, ihr qualvolles Klagen.
Elza legte die Hand an die Tür und streichelte die dunkel gestrichene Oberfläche. Sie sagte etwas auf Lettisch, tröstete Daiga V ī tolas Mutter. Dann war eine zweite Stimme zu hören, die einer jungen Frau.
»Ausma?«, rief Elza.
Sie sprach schnell und aufgeregt, von innen wurde geantwortet, Fragen flogen hin und her. Über dem Wortwechsel schwebte die heisere Klage der Mutter.
Elza erklärte Lia, was sie erfahren hatte.
Die Frauen waren seit dem Frühjahr im Haus gefangen. Vanags hatte sie von der Vassall Street direkt hierhergebracht. Er hatte gesagt, sie würden sofort getötet, wenn sie einen Fluchtversuch unternahmen, Krach schlugen oder sich sonst irgendwie bemerkbar machten. An den Türen und Fenstern sei Sprengstoff angebracht, der explodiere, wenn sie versuchten, das Haus zu verlassen.
»Aber das glaube ich nicht«, merkte Elza an.
Lia trat instinktiv einen Schritt zurück, obwohl auch sie die Drohung für unwahrscheinlich hielt.
Elza berichtete weiter, dass Daigas Mutter Henriete hieß, die Tochter Ausma V
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