Die Frau ohne Gesicht
schnell, dass niemand bei der Luftaufsicht nachfragen kann.«
Lia wunderte sich immer noch darüber, dass Paddy so schnell einen Hubschrauber aufgetrieben hatte.
Er kenne den Direktor der Firma, erklärte Paddy. Der Flugtaxiservice hatte sechzehn Hubschrauber, von denen immer mehrere im Einsatz oder startbereit waren. Die Firma konnte in London jederzeit einen Hubschrauber losschicken. Meist brachten sie Unternehmensbosse von einer Sitzung zur anderen, aber manchmal bestellte auch Paddy einen Eiltransport. Die Helikopter durften über London nur bestimmte Routen fliegen und nicht überall landen, doch gegen einen Aufpreis war der Direktor bereit, das Risiko einzugehen.
Elza war blass und blickte nervös auf die Uhr. Auch Lia überprüfte die Zeit. Sie hatten noch drei Minuten.
Der Lift hielt im Erdgeschoss.
»Man sollte dich lieber nicht mit Paddy und mir sehen«, sagte Lia zu Elza. »Am besten gehst du von hier allein in den Schönheitssalon zurück.«
Elza nickte stumm.
Sie hat Angst. Todesangst.
»Treffen wir uns heute Abend im Eckladen in der Vassall Street?«, schlug Lia vor. »Ich bin gegen acht Uhr dort. Dann erzähle ich dir, was wir tun. Du musst jetzt nur die Ruhe bewahren.«
»Es hängt nicht von mir ab, sondern davon, ob Henriete und Ausma ruhig bleiben. Um acht im Laden«, sagte Elza und ging.
Lia und Paddy warteten einige Minuten. Sie sahen einen großen schwarzen Lieferwagen vor dem Einkaufszentrum vorfahren. Lia erkannte den Fahrer: Es war der Glatzkopf, Olafs Jansons. Bei der Erinnerung an ihre nächtlichen Begegnungen mit dem Mann zuckte sie unwillkürlich zusammen und verbarg sich hinter Paddy. Elza und die drei anderen Frauen kamen aus dem Einkaufszentrum und stiegen in den Lieferwagen, der sich in den Verkehr einfädelte und davonfuhr.
»Und jetzt?«, fragte Paddy.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Lia. »Ich habe keine Ahnung.«
36.
Mari meldete sich sofort. Sie hörte Lia eine Weile zu und fragte dann: »Wie lange haben wir Zeit? Bis acht? Gut.«
Sie bat Lia, zu ihr ins Fitzroy-Museum zu kommen. Paddy solle inzwischen ein paar Stunden Pause machen.
Im Museum kaufte Lia eine Eintrittskarte und ging in die Halle zwischen dem vierten und fünften Ausstellungsraum. Mari saß wie beim letzten Mal auf der Bank vor dem »Double O«. Sie war völlig in den Anblick der Bandkreise vertieft, die zwischen den riesigen Ventilatoren durch die Luft wirbelten.
Hier findet sie Ruhe, ganz gleich, was passiert.
Lia setzte sich neben Mari und berichtete leise von den Ereignissen.
Mari hörte schweigend zu. Ihr Gesicht blieb reglos. Selbst der Preis für den Hubschrauber schien sie kaltzulassen.
Lia gab ihr das Foto von Daiga V ī tola. Sie brauchte nicht zu erklären, wen es zeigte. Mari betrachtete das Bild lange, dann blickte sie wieder auf das wirbelnde Kunstwerk.
Ihre Miene war ernst, und als sie Lia endlich ansah, lag tiefe Trauer in ihren Augen. Sie schwieg immer noch.
Woran denkt sie? Ich schaffe das nicht allein.
»Wir haben nur problematische Alternativen«, sagte Mari schließlich. »Ich habe nach einem Weg gesucht, die Sache so zu erledigen, dass Vanags mit Sicherheit geschnappt wird und die Frauen freikommen. Aber es gibt keinen.«
Vielleicht werde die Polizei Beweise gegen Vanags finden, aber es sei ebenso gut möglich, dass man ihn nicht mit dem Mord in Verbindung bringen konnte. Wenn Vanags auf freiem Fuß bliebe, wären sie aber alle in Gefahr.
Mari hatte inzwischen bereits zu klären versucht, welchen Status die betroffenen Lettinnen in Großbritannien hatten. Sie hatte eine Juristin angerufen, die sich auf die Rechte von Immigranten spezialisiert hatte. Es sei eine schwierige und unklare Situation, hatte die Juristin erklärt. Die Angehörigen von Daiga V ī tola und die Prostituierten aus der Vassall Street würden möglicherweise nach Lettland zurückgeschickt.
Wenn die Frauen sich wiederum nicht den Behörden stellten, sondern versuchten, sich auf eigene Faust in Großbritannien durchzuschlagen, lag ein hartes Leben vor ihnen. Sie mussten sich verstecken und durften keine Verbindung zu Verwandten und Freunden aufnehmen. Andernfalls würde Vanags sie aufspüren.
Lia begriff. Es gab keinen Weg, die Probleme der Frauen vollständig zu lösen.
So ist das also? Wir laufen uns die Hacken ab, stellen Nachforschungen an, durchkämmen Archive. Wir begeben uns in Gefahr. Und trotzdem können wir nichts Gutes tun.
»Können wir ihnen nicht helfen, in ein anderes Land zu
Weitere Kostenlose Bücher