Die Frau ohne Gesicht
entkommen?«, fragte Lia.
»Natürlich. Aber wo ziehen wir die Grenze? Wenn wir ihnen helfen, warum dann nicht auch den Frauen in den anderen Bordellen von Vanags?«
Sie konnten den Frauen ein Überbrückungsgeld geben und ihnen einen Anwalt besorgen, aber Anspruch auf Asyl hatten die Lettinnen nicht. In ihrem Land herrschte keine Not.
»In Lettland kann man durchaus leben. An irgendeinem Punkt muss man aufhören zu helfen«, sagte Mari.
Sie zeigte auf das Kunstwerk.
»Du darfst nicht vergessen, dass auch das hier das Baltikum ist. Dort gibt es Kunst, Künstler, Alltagsleben. Ganz normale Menschen. Wenn Elza und die anderen nach Lettland zurückkehren, können sie dort vielleicht ein ganz gutes Leben führen.«
Diese Frauen waren entwürdigend behandelt worden. Doch sie waren bewusst ein Risiko eingegangen, als sie illegal nach London gekommen waren, und sie hatten Pech gehabt. Lia und Mari konnten ihnen ihr Schicksal ein wenig erleichtern, aber zum Guten wenden konnten sie es nicht.
Sie konnten ihnen keine glückliche Zukunft bescheren. Darum mussten sich die Frauen selbst kümmern.
»Es geht um das rechte Maß«, fuhr Mari fort. »Wir müssen das rechte Maß beachten.«
Lia begriff, dass Mari aus Erfahrung sprach.
Sie war schon einmal in einer ähnlichen Situation.
Aber aus der Lebensgefahr mussten sie die Frauen retten, forderte Lia. Das Wichtigste sei, die Prostituierten und Daigas Familie in Sicherheit zu bringen. Alles andere würde sich finden. Vielleicht komme Vanags für seine Verbrechen ja doch noch vor Gericht.
»Wir helfen den Frauen aus der Gefahrenlage heraus, danach müssen sie selbst entscheiden, was sie tun wollen. Wenigstens haben sie dann eine Wahl«, entschied Mari.
Sie stand auf.
»Du denkst die ganze Zeit auch an Fried, oder?«, fragte Lia.
»Ich denke an alles.«
Auf dem Weg zum Studio entwickelte Mari einen Plan. Sie rief Paddy an und bat ihn, ebenfalls ins Studio zu kommen. Kurz nach sechs hatten sie alle Einzelheiten ausgefeilt.
Lia überlegte, ob sie nach Hause fahren sollte, um sich auszuruhen, doch dafür war die Zeit zu knapp. Sie blieb im Studio, ließ eine der Hängematten von der Decke herunter und legte sich hinein.
Sie sah einen Streifen des dunklen Himmels und die gegenüberliegenden Industriegebäude. Auf ihren Wänden lag ein warmes Licht, das durch die großen Fenster einer zur Galerie umfunktionierten Fabrikhalle fiel. Als sie die Augen schloss, lauschte sie auf die Arbeitsgeräusche des Studios. Mari ging von Zimmer zu Zimmer und sprach mit den anderen. Berg unterhielt sich leise mit ihr und bekam Anweisungen für den morgigen Tag.
Lia dachte an das, was sie bald tun würde. Noch vor einiger Zeit hätte sie Angst davor gehabt, nun war sie merkwürdig ruhig.
Kurz nach sieben Uhr machte Lia sich auf den Weg nach Camberwell. Unterwegs bekam sie einen Anruf von Paddy, der plangemäß Kazis Vanags beschattet und sich vergewissert hatte, dass er bei Lias Ankunft nicht mehr in der Vassall Street war.
Um Viertel vor acht erreichte Lia ihr Ziel und bezog in einer dunklen Ecke in der Nähe des Ladens Posten.
Die Zeit kroch dahin. Es wurde acht Uhr, doch Elza ließ sich nicht blicken.
Endlich, sechs quälend lange Minuten später, sah Lia Elza näherkommen und den Laden betreten. Sie folgte ihr rasch zwischen die Verkaufsregale und berichtete leise von ihrem Vorschlag. Der Plan war simpel. Elza hörte aufmerksam zu und stellte zum Schluss nur eine einzige Frage.
»Und danach? Wohin sollen wir dann gehen?«
»Das müsst ihr selbst entscheiden.«
Elza nickte. Sie berührte Lia leicht an der Schulter.
»Danke«, sagte sie.
Dann wandte sie sich ab und legte Zigaretten und Obst in ihren Korb. Sie hielt einen Einkaufszettel in der Hand.
Zigaretten. Abendzeitung. Bananen. Und etwas, womit man ein neues Leben beginnt , dachte Lia.
37.
Um 9.40 Uhr am nächsten Tag begann die Verwirklichung des Plans. Lia saß neben Paddy in einem Wagen in der Vassall Street. Sie hatte früh am Morgen die Betriebsärztin von Level angerufen und über eine schwere Erkältung geklagt. Die Ärztin hatte sie für drei Tage krankgeschrieben, und Lia hatte keinerlei Gewissensbisse verspürt.
Im obersten Stock des Hauses Nr. 12 wurde das Signal gegeben. Ein Fenster öffnete sich, und eine Hand, die ein kleines weißes Handtuch hielt, kam zum Vorschein. Die Hand schwenkte das Tuch, ein ums andere Mal.
Lia beobachtete im Rückspiegel, wie dem Wagen hinter ihnen zwei Männer entstiegen.
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