Die Frau ohne Gesicht
dass einer von Vanags’ Komplizen sie aufspürte. Sie mussten den nächsten Schritt tun.
»In Ordnung. Ich rede mit den anderen«, sagte Elza.
Gegen vier Uhr traf eine etwa vierzigjährige Frau auf dem Campingplatz ein. Fiona Gould war die auf die Rechte von Immigranten spezialisierte Juristin, die Mari für die Frauen als Beraterin engagiert hatte.
Lia erwartete, dass das Gespräch über die Zukunft auf die Stimmung drücken würde, doch das Gegenteil war der Fall.
Fiona Gould war umwerfend. Sie redete laut und lachte noch lauter, und alle merkten, dass sie überaus kompetent und scharfsichtig war. Sie schilderte exakt und realistisch, welche Alternativen die Frauen hatten.
Als Lettinnen und EU -Bürgerinnen hatten sie im Prinzip in Großbritannien einige Rechte, unter anderem das Recht, sich im Land aufzuhalten und zu arbeiten. Problematisch war, wie sie erfuhren, nur, dass die meisten heimlich eingereist waren und keine Personalausweise hatten – die hatte Vanags an sich genommen. Vier von ihnen hatten als Prostituierte gearbeitet, was in Großbritannien an sich legal war; illegal war jedoch, dass sie für Zuhälter gearbeitet hatten.
Sie waren Ausnahmefälle. Anspruch auf Asyl hatten sie nicht, denn Lettland war ein sicherer Staat. Auch dass sie gefangen gehalten worden waren, änderte daran nichts – sie konnten gegen die Schuldigen prozessieren, doch ein neues Leben in London ermöglichte ihnen das nicht.
Fiona Gould beschönigte nichts.
»Ich muss euch natürlich raten, die Gesetze zu befolgen und euch den Behörden zu stellen. Es kann aber sein, dass ihr dann nach Lettland ausgewiesen werdet. Wenn ihr illegal im Land bleibt, habt ihr keinen Anspruch auf Sozialleistungen, und es kann schwierig werden, Arbeit zu finden.«
Auf der Suche nach Arbeit kamen jährlich Hunderttausende nach Großbritannien, viele davon illegal, erklärte sie weiter. Schätzungen zufolge kehrte etwa die Hälfte innerhalb eines Jahres in ihr Heimatland zurück oder zog in ein Drittland, weil sich ihre Hoffnungen nicht erfüllt hatten.
»Die Rückkehr nach Lettland wäre für viele von euch vielleicht die beste Alternative. Vor allem, wenn ihr dort Freunde und Verwandte habt«, schloss Gould ihre Ausführungen.
Die Frauen wogen ihre Möglichkeiten ab. Zu Lias Erleichterung wollte keine der vier aus der Vassall Street noch einmal in einem Freudenhaus arbeiten. Sie hätten mit jedem neuen Zuhälter Probleme bekommen, sobald er von ihrer Flucht erfuhr.
Diese vier mussten eine schwierige Entscheidung treffen. Sie waren freiwillig als Prostituierte nach London gekommen, dort praktisch in Gefangenschaft geraten und hatten bei aller Angst ihren Alltag so erträglich gestaltet, wie es ihnen möglich war. Die Erinnerung an ihr früheres Leben hatten sie verdrängt.
Für sie war London ein Gefängnis gewesen, aber ein Gefängnis inmitten der Aussicht auf Wohlstand. Sie fragten sich, ob London ihnen noch etwas anderes zu bieten hätte. Die Rückkehr nach Lettland brachte ihnen ein Wiedersehen mit ihren Lieben, war aber auch die Rückkehr zu den alten Problemen: Wie würden sie zurechtkommen, wie konnten sie sich ihren Lebensunterhalt verdienen?
Lia fragte sie nach ihrer Arbeit in der Vassall Street und nach dem Verhalten ihrer Freier. Sie wollte ihr Handeln und die freiwillige Entscheidung, als Prostituierte zu arbeiten, verstehen lernen.
Die Frauen antworteten knapp und ernst. Ja, die Arbeit sei anstrengend gewesen, in ihrer Freizeit hätten sie nichts anderes geschafft, als auf den Fernseher zu glotzen. Nein, die Freier seien nicht gewalttätig, aber einige von ihnen ziemlich unsensibel gewesen, manche hätten sie zu hart angefasst, seien gemein gewesen, so als gehöre es sich eben, eine käufliche Frau verächtlich zu behandeln, aber das sei Alltag in der Branche. Alle vier Frauen waren schon dreißig oder älter. Das war alt für eine Prostituierte, denn viele Männer wollten nur Zwanzigjährige. Deshalb hatte man sie zu Dumpingpreisen angeboten: Vor fünf Uhr galten Happy-Hour-Preise, und für Stammkunden gab es Sonderangebote.
Nach einer Weile zog Elza Lia beiseite und bat sie, mit ihren neugierigen Fragen aufzuhören. »Du fragst um deinetwillen. Uns hilfst du damit nicht. Du bist ein wunderbarer Mensch und hast unglaublich viel für uns getan. Aber jetzt lass uns bitte in Ruhe. Auf die Weise hilfst du uns mehr«, sagte sie.
Lia verstand. Die Frauen hatten problematische Entscheidungen getroffen. Sie schämten sich für
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