Die Frau ohne Gesicht
vor einigen Tagen mit dem Privatdetektiv Kontakt aufgenommen und ihn gebeten, die Information sofort an die Polizei weiterzuleiten.
»Das erschien mir besser. Der Fall mit den Lettinnen kam dazwischen. Deshalb seid ihr jetzt dort, Paddy, Berg und du. Das ist ganz in Ordnung so.«
Mari hatte sich überlegt, dass Arthur Fried Maßnahmen ergreifen würde, um gegen die Enthüllungen über seinen Steuerbetrug anzukämpfen. Deshalb hatte sie ihm schon jetzt ein neues Problem auftischen wollen. Wenn Fried damit beschäftigt war, Fragen über die rassistischen Gruppierungen zu beantworten, blieb ihm keine Zeit, eine Operation zur Rettung seines Rufs zu planen.
»Das verschafft uns mindestens zwei Tage Ruhe. Danach brauche ich dich hier. Und Paddy und Berg natürlich auch. Wie geht es dir?«
»Ich weiß nicht. Ich fühle mich irgendwie benommen.«
»Lass es ruhig angehen. Du kannst mich jederzeit anrufen. Auch, wenn du nur mal reden willst.«
Dieser Tag war in jeder Hinsicht außergewöhnlich. Lia verfolgte die Nachrichten, die immer wieder Analysen über den neuen Skandal um die Fair Rule brachten. Viele Kommentatoren äußerten die Vermutung, die Partei sei ins Trudeln geraten und werde sich nicht mehr erholen, jedenfalls nicht vor der Parlamentswahl.
Während sie vor dem Fernseher saß, sah Lia immer wieder Momentaufnahmen des gestrigen Tages vor sich aufblitzen. Wie sie gezwungen wurde, in den Kofferraum zu steigen. Die Blutspritzer in der Grube. Henriete V ī tola mit der Waffe in der Hand. Die schlaffen Körper von Kazis Vanags und Olafs Jansons.
Sie fand es seltsam, dass die Nachrichten nichts darüber brachten. Im Vergleich zu dem, was sie gestern erlebt hatte, schien ihr der Rassismusverdacht gegen eine Partei geringfügig.
Im Lauf des Tages bildeten Lia, Berg, Paddy und die sechs Lettinnen eine eigentümliche Familie. Sie kochten gemeinsam und spielten Karten. Es wurde viel geredet, doch die gestrigen Ereignisse wurden mit keinem Wort erwähnt.
Vater und Mutter der Familie war Berg, der ihnen zuhörte und sie stützte. Elza und die anderen Frauen aus der Vassall Street waren Schwestern, die loyal zueinander standen.
Lia lernte sie alle langsam immer besser kennen. Sie stellte bald fest, dass es ihr schwerfiel, sie mit der Prostitution und überhaupt mit ihrer Vergangenheit noch in Verbindung zu bringen. Nur ab und zu wurde sie durch eine gewisse Melancholie, die in manchen Momenten auf den Gesichtern der Frauen lag, an ihren Hintergrund erinnert. Abgesehen davon schien es so, als wollten sie alle eine Weile nicht an ihre Vergangenheit denken und beteiligten sich deshalb auch mit Feuereifer am Kartenspiel und Witzereißen.
Paddy war der ausgebuffte große Bruder: Er erwies sich als Meister sämtlicher Kartenspiele. Unter seiner Anleitung fand ein langes Pokerspiel statt, bei dem er von einer zur anderen ging und Ratschläge erteilte.
Lia war sich nicht sicher, was Ausma V ī tola durch den Kopf ging. Sie beteiligte sich an allem, war aber still, auch mit den Lettinnen wechselte sie kaum ein Wort.
Sie hat vor zwei Tagen erfahren, dass ihre Mutter einen entsetzlichen Tod gestorben ist. Sie hat monatelang in einem verriegelten Haus leben müssen, ohne zu wissen, was mit ihr und ihrer Familie geschehen wird.
Sie ist fast noch ein Kind und hat doch schon die ganze Grausamkeit der Welt erlebt.
Henriete und Lia wurden von den anderen behütet und verwöhnt. Sie ließen es sich dankbar gefallen.
Lia beobachtete Henriete verstohlen von der Seite. Mit ernstem Gesicht und entschiedenem Blick saß sie unter ihnen. Sie spielte zwar nicht mit, ließ sich aber sonst nichts anmerken.
Lia glaubte zu wissen, was Henriete dachte: Sie wollte durchhalten.
Am Nachmittag, als die meisten ein Schläfchen hielten, kam Elza zu Lia.
»Wie geht es dir?«, fragte sie.
»Geht schon.«
Lia fügte hinzu, dass sie körperlich eigentlich wieder ganz fit sei, nur habe sie immer noch, auch im wachen Zustand, öfter Albträume.
Elza nickte verständnisvoll. Dann stellte sie endlich die Frage, die ihr schon länger auf den Lippen gelegen haben musste: »Wie lange können wir hierbleiben?«
»Nicht lange. Bis morgen. Das heißt, morgen müssen sich alle entscheiden, wohin sie gehen wollen.«
Lia und Mari hatten sich überlegt, dass die Frauen notfalls auch länger auf dem Campingplatz bleiben konnten. Aber es war besser, die Entscheidung nicht herauszuschieben. Damit wäre niemandem geholfen, und zudem bestand die Möglichkeit,
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