Die Frau ohne Gesicht
das, was ihnen passiert war. Darüber zu sprechen unterstrich nur den Unterschied zwischen ihnen und anderen. Sie mussten die Möglichkeit haben, sich von ihren Erfahrungen zu lösen und mit der neuen Situation zurechtzukommen.
Fiona Gould hatte Elzas Worte gehört.
»Denk nicht, du hättest etwas falsch gemacht«, sagte sie zu Lia. »So geht es, wenn man Menschen hilft. Du kannst dich nicht in ihr Leben drängen, kein Stück weiter, als sie es wollen. Viele Helfer denken, sie könnten gleichzeitig auch Freundschaften schließen. Das geht nicht. Man muss es fertigbringen, zu helfen und gleichzeitig Distanz zu wahren. Das ist für alle Beteiligten besser.«
Das hat Mari auch schon gesagt. Es geht darum, fair zu verteilen.
Gegen Abend schienen sich die Frauen entschieden zu haben. Elza und Ausma wollten in Großbritannien bleiben, zumindest vorläufig. Es würde problematisch sein, einen Job zu finden, aber beide waren bereit, einfache Arbeiten zu verrichten, etwa als Putzfrau oder Hilfskraft in Krankenhäusern oder Restaurants.
Henriete, Alise, Kamilla und Rozalinde wollten nach Lettland zurückkehren.
Alle sechs brauchten einen Pass. Ohne Papiere konnten sie weder in London Arbeit suchen, noch nach Lettland zurückkehren. Zwar gehörten beide Länder zur EU , doch Großbritannien lag außerhalb des Schengen-Gebiets.
Es war Paddy, dem die Lösung des Problems einfiel. Bevor er aber darüber sprechen wollte, bat er Fiona Gould, einen kleinen Spaziergang zu machen.
»Das ist etwas, woran du dich nicht beteiligen darfst«, sagte er.
Mari könne über ihre Kontakte falsche Pässe besorgen, erklärte Paddy, als Fiona den Wohnwagen verlassen hatte. Das hätte sie auch früher schon getan, nur müsse es diesmal schneller gehen.
Die Frauen waren erleichtert. Berg ging sofort daran, Passfotos zu machen, und notierte ihre Geburtsdaten, ihre Heimatorte und ihre vollständigen Namen.
»Woher kommen die Pässe?«, fragte Lia. Sie dachte an Big K, mit dem sie und Mari sich getroffen hatten, den Polizeispitzel mit Kontakten zur Unterwelt.
»Das brauchst du nicht zu wissen«, antwortete Paddy. »Es ist nicht wichtig, alles zu wissen. Lass Mari das erledigen.«
Die Fotos und Personalien der Frauen wurden per E-Mail an das Studio geschickt.
»Das wird teuer«, seufzte Berg so leise, dass nur Lia ihn hörte. »Sechs lettische Pässe, als Sofortlieferung. Es grenzt an ein Wunder, sie so schnell zu produzieren.«
Aber die Kosten waren Mari gleichgültig. Ihr kam es nur darauf an, dass die Sache erledigt wurde.
Erleichterung machte sich breit, nachdem die Zukunftsfrage weitgehend gelöst war. Die Gespräche mit Fiona Gould und die Aussicht, Pässe zu bekommen, dämmten die Unsicherheit der Frauen ein.
Seltsamerweise hatte auch Lia das Gefühl, durch Goulds Worte und die Entscheidungen der Frauen Kraft gewonnen zu haben.
Es gibt das Gesetz – und die Gesellschaft. Gestern haben wir uns weit außerhalb aufgehalten. Auch heute operieren wir über seine Grenzen hinweg. Bald kehre ich in seinen Kreis zurück.
Am Abend wurde im großen Wohnwagen gefeiert. Fiona Gould blieb bei ihnen und fühlte sich sichtlich wohl. Berg spielte den Barkeeper und mixte Drinks aus allem, was vorrätig war. Ausma suchte als DJ im Radio nach den passenden Songs. Die anderen spielten Karten, rauchten, tranken und lachten. Es wurde laut geredet, Englisch und Lettisch – alles bunt durcheinander.
Lia war die Einzige, die sich ab und zu in den kleinen Wohnwagen zurückzog, um in Ruhe die Nachrichten zu sehen. Der Niedergang der Fair Rule und ihres Parteiführers war den ganzen Abend über das Hauptthema. Auf jedem Sender, in jeder Sendung wurde die Frage gestellt: Warum tritt Fried nicht an die Öffentlichkeit?
Seit die Vorwürfe gegen ihn und seine Partei laut geworden waren, hatte Fried kein einziges Interview gegeben.
»Er galt bisher als geschickter Politiker, der sich auf das Spiel mit der Öffentlichkeit versteht, doch jetzt drängt sich der Verdacht auf, dass er entweder ein Feigling oder ein Schaumschläger ist«, stellte der Moderator des Aktuellen Studios auf Channel Four fest.
Lia nahm an, dass Mari zufrieden war, rief sie aber nicht an. Sie wollte sich auf ihre große Familie in Barrowside konzentrieren.
41.
Der Zusammenbruch kam in der Nacht, kurz nach ein Uhr.
Lia hatte keinen Schlaf gefunden. Sie hatte unbedingt ohne Schlaftablette auskommen wollen. Reglos hatte sie auf dem Rücken gelegen und den Schlafgeräuschen der anderen
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