Die Frau ohne Gesicht
wusste dort auch schon, dass es sich um eine Traumareaktion handelte – Mari hatte per Telefon alles vorbereitet.
Die Sanitäter holten Lia aus dem Wohnwagen, und Sekunden später lag sie bereits im Untersuchungszimmer. Geräte überwachten ihre Organfunktionen, die Krankenschwestern überprüften Puls, Temperatur und die Reaktion ihrer Pupillen.
Paddy zögerte, Lias Namen und ihre Personaldaten anzugeben, doch es wäre unsinnig gewesen, sie zu verheimlichen.
Der Arzt erschien nach wenigen Minuten. Paddy schätzte ihn rasch ab und war zufrieden. Joe Alderite war ganz offensichtlich ein erfahrener Notarzt, der sich mit ungewöhnlichen Situationen auskannte.
»Die Ursache des psychischen Traumas?«, fragte Alderite.
»Kidnapping. Sie schwebte mehrere Stunden in Lebensgefahr. Aber sie will nicht, dass die Polizei eingeschaltet wird.«
Alderite zog die Augenbrauen hoch und machte sich Notizen.
»Und wer sind Sie?«
»Ihr Kollege. Einer derjenigen, die sie aus der Gefahrensituation herausgeholt haben.«
Paddy verschwieg, dass Lia außerdem aus nächster Nähe gesehen hatte, wie zwei Menschen erschossen wurden. Der Arzt ging ins Behandlungszimmer, um sie zu untersuchen.
Ein schwerer Schock, erklärte er, als er zurückkam. Lias Atmung sei stabil, aber das EEG und die Pulsfrequenz verrieten, dass nicht alles in Ordnung war. Lia befand sich in einem Zustand höchster Anspannung, der ihren Körper überforderte. Sie reagierte nicht, wenn man sie ansprach. Alderite vermutete, dass Sprechen im Moment über ihre Kräfte ging.
Da Lia, soweit man wusste, an keiner Krankheit litt und ihr Allgemeinzustand hervorragend war, hielt der Arzt vorläufig eine langsame, beobachtende Pflege für angeraten. Man hatte ihr eine Infusion gelegt, doch sie bekam nur ein schwaches Beruhigungsmittel. Gegebenenfalls konnte man die Medikation später ändern.
Paddy und Elza warteten in der Klinik auf Mari, die eine halbe Stunde später eintraf. Nach kurzer Beratung beschlossen sie, dass Mari bei Lia blieb, während Paddy und Elza zum Campingplatz zurückfuhren.
Als Mari in der Notaufnahme erklärte, sie sei Lias Angehörige und wolle bei ihr bleiben, wurden auch ihre Personalien notiert.
»In welchem Verhältnis stehen Sie zu der Patientin?«
»Ich bin ihre Schwester.«
42.
Mari sitzt im Krankenzimmer und betrachtet Lia.
Lia schläft oder ruht in schlafähnlichem Zustand. Sie scheint nicht zu wissen, wo sie ist und dass Mari bei ihr sitzt.
Lia atmet tief und gleichmäßig. Mari horcht unablässig auf ihre Atemzüge.
Sie hat schon traumatisierte Menschen gesehen. Lias Zustand ist nicht extrem schlecht, aber ernst.
Eine Frage muss sofort beantwortet werden, damit Mari weiß, wie es weitergehen soll: Liegt Lia ihretwegen hier?
Nein.
Lia hängt am Tropf, durch den langsam ein Beruhigungsmittel in ihre Blutbahn fließt, im Krankenhaus von Kilburn, weil sie im April in der Londoner City einen weißen Volvo gesehen hat und ihn und seine schreckliche Fracht nicht vergessen konnte, ohne sich zu verändern.
Mari ist mitschuldig. Sie war daran beteiligt, die Veränderung möglich zu machen. Lia ist dem Tod begegnet, zuerst im April aus der Distanz und jetzt von Angesicht zu Angesicht, qualvoll.
Mari betrachtet Lia und beurteilt die Lage. Sie denkt, dass Lia es überstehen wird.
Wenn die Ereignisse der letzten Tage der Frau zugestoßen wären, die Lia noch vor einiger Zeit war, befände sie sich jetzt in einem schlimmeren Zustand. Aber Lia hat sich verändert, das hat sie selbst gemerkt. Sie ist besser darauf vorbereitet, dass auch schlimme Dinge geschehen können.
Jeder Mensch verarbeitet Probleme auf der Skala, an die er gewöhnt ist.
Es gibt viele Menschen, für die es unerträglich wäre, einen Mord mit anzusehen oder mit einer Waffe bedroht zu werden. Das ist auch gut und richtig so. Aber Lia kann diese Furcht bereits überwinden.
Mari verfügt über eine ungewöhnlich große Skala zur Verarbeitung von Erschütterung und Angst. Diese Skala ist durch Situationen gewachsen, in denen Mari ein nahezu lähmendes Ausmaß an Schmerz und Furcht erlebt hat. Doch sie hat diese Erfahrungen überstanden.
Die Nacht vergeht langsam. Mari sitzt neben Lia und betrachtet sie.
Am frühen Morgen verlässt sie das Zimmer kurz, um zur Toilette zu gehen und die Krankenschwester zu fragen, ob sie im Zimmer ihr Handy benutzen darf. Es ist erlaubt. Sie geht zurück, setzt sich und nimmt Lias freie Hand. Lia wacht nicht auf.
Mari liest am Handy die
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