Die Frau ohne Gesicht
Frauen gelauscht. Leichtes Schnarchen, Atemzüge, Rascheln, wenn sich jemand umdrehte. Es war stickig im Wohnwagen, sieben Personen waren zu viel für die Lüftung.
Lia spürte, wie ihr die Brust eng wurde, als hätte sich eine schwere Eisenplatte auf sie gelegt. Schließlich hielt sie den Druck nicht mehr aus.
Sie musste nach draußen, an die frische Luft.
Sie stand auf, tastete sich zur Tür und öffnete sie. Die Nacht war schwarz.
Die Lampen auf dem Campingplatz waren ausgeschaltet, und der Mond schien nicht. Lia sah nur mit Mühe, wohin sie den Fuß setzte.
Nach einigen Schritten fiel ihr ein, dass sie die Tür offen gelassen hatte. Sie drehte sich um und wollte sie schließen, doch plötzlich konnte sie sich kaum mehr bewegen. Der Druck umgab sie nun von allen Seiten. Ihr wurde schwindlig. Die Beine gaben nach.
Sie war noch reaktionsfähig genug, um sich mit den Armen abfangen zu können. Aber in ihrem Kopf pochte es so heftig, dass sie glaubte, es würde ihn zersprengen. Vor ihr im Dunkel setzten sich kaleidoskopisch dunkelrote Stränge zusammen: Die Blutspuren in der Betongrube, überall um sie herum. Menschenspuren.
Der Schrei kam von tief innen. Lia begriff nicht, dass sie schrie, obgleich, davon besetzt, ihr ganzer Körper förmlich bebte.
Als plötzlich helles Licht aufflammte, ergriff sie nur noch größere Panik. Ihr Schreien steigerte sich ins Hysterische. Erst als Paddy die Taschenlampe niedersinken ließ und seine warme Hand ihre Schulter berührte, verwandelte es sich in ein verzweifeltes Schluchzen.
In beiden Wohnwagen gingen jetzt die Lampen an. Elza stieß mit einem Ruck die Tür auf, Berg war schon auf dem Weg zu ihnen. Das Schreien erstarb und jemand schnappte nach Luft. Erst nach wenigen Sekunden, als ihre Augen sich an das helle Licht gewöhnt hatten, erkannten die beiden Lia.
Auf ihre Hände gestützt, kauerte sie auf dem Boden. Sie zitterte, würgte und versuchte offensichtlich zu atmen. Paddy saß über sie gebeugt und streichelte sanft ihren Rücken. Mit einem kurzen Nicken signalisierte er Elza, die ihn fragend ansah, sie dürfe näherkommen.
Vorsichtig kniete sie sich zu den beiden auf den kalten Boden.
Paddy leuchtete mit der Taschenlampe in Elzas Gesicht, damit Lia sah, wer bei ihr war. Lia starrte sie erst eine Weile an, scheinbar ohne sie zu erkennen, doch allmählich veränderte sich ihr Gesichtsausdruck. Ihre Panik entlud sich in heftigem Weinen.
Elza berührte sie behutsam, und Lia drängte sich Schutz suchend an sie.
Mari meldete sich sofort. Als hätte sie noch gar nicht geschlafen.
Paddy erklärte ihr die Lage. Sie hatten es geschafft, Lia auf eine Decke zu legen; sie atmete unregelmäßig.
Elza saß neben ihr und hielt ihre Hand.
»Das hatte ich befürchtet«, sagte Mari.
Lia musste ihre Angst irgendwann herauslassen, aber Mari hatte gehofft, dass es ruhiger und langsamer geschehen würde.
»Ich rufe eine Psychiaterin an, eine Spezialistin für die Behandlung von Gewaltopfern.«
»Wo willst du mitten in der Nacht so jemanden auftreiben?«
Mari erklärte, sie habe die Psychiaterin schon zwei Mal wegen Henriete und Lia konsultiert. Sie hatte ihr geraten, abzuwarten, weil Menschen sehr unterschiedlich auf Katastrophen und Bedrohungen reagierten. Manchmal verschlimmere ein klärendes Gespräch das Problem, statt Hilfe zu bringen. Eine heftige Reaktion war jedoch nicht auszuschließen, und deshalb hatte Mari mit ihrer Bekannten vereinbart, dass sie sie jederzeit um Hilfe bitten konnte.
Nach einigen Minuten rief Mari Paddy zurück.
»Ins Krankenhaus.«
Die Psychiaterin hatte ihr gesagt, Lia müsse wegen ihrer Atembeschwerden in eine Klinik gebracht werden, aber nicht im Krankenwagen, weil sich ihr Angstzustand dadurch verschlimmern konnte, und auch nicht in Paddys Auto, das sie an die schrecklichen Ereignisse erinnern würde.
»Fahrt mit dem kleinen Wohnwagen nach Kilburn, da ist die nächste Klinik. Ich rufe jetzt gleich dort an. Zuerst muss Lias Atmung stabilisiert werden, dann können wir uns über den Rest Gedanken machen.«
Paddy trug Lia zum kleineren Wohnwagen und legte sie dort auf eines der Betten. Sie reagierte auf keine seiner Berührungen.
»Atme«, sagte Paddy. »Konzentrier dich auf deinen Atem. Bald bekommst du Hilfe.«
Elza fuhr mit ihnen, während Berg bei den anderen Frauen im großen Wohnwagen blieb. Da niemand mehr schlafen konnte, kochte er für alle Tee.
In der Notaufnahme der Klinik in Kilburn wurden sie bereits erwartet. Man
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