Die Frau ohne Gesicht
unverzüglich bei Mari an.
»Glaubst du, du wirst damit fertig?«, fragte Mari. »Sonst beauftrage ich einen Juristen, die Sache hinauszuzögern.«
»Ich glaube schon, dass ich es schaffe. Aber ich würde mich wohler fühlen, wenn mich jemand begleiten könnte … Falls sie irgendwelche überraschenden Fragen stellen.«
»Wie wäre es mit Paddy?«
Lia überlegte kurz.
»Eigentlich hätte ich gern Fiona Gould.«
Die Anwältin war nicht über alle Ereignisse informiert, würde Lia also in keiner Hinsicht für schuldig halten. Und als Juristin wusste sie, welche Fragen Lia nicht zu beantworten brauchte.
»Ich erledige das, warte zwei Minuten«, sagte Mari.
Gleich darauf rief sie zurück und erklärte, Fiona Gould werde sofort mit dem Taxi zur Polizeistation in der Wood Street fahren.
Lia entschuldigte sich bei dem AD Martyn Taylor, weil sie gleich am ersten Tag nach ihrem Krankenurlaub früher gehen musste. Taylor schien es ihr nicht zu verübeln.
»Weihnachtsvorbereitungen?«, fragte er.
»So ähnlich«, sagte Lia.
Zu ihrer Erleichterung hatte Gerrish ein unmarkiertes Fahrzeug geschickt, und niemand aus der Redaktion sah, dass sie in den Wagen stieg.
Der Fahrer war ein junger Polizist in Zivil, der sich kurz vorstellte und erklärte, er werde Lia zum Polizeirevier der City bringen. Während der Fahrt schwieg er, was Lia nur recht war.
Fiona Gould wartete vor dem Polizeigebäude. Ihr Anblick gab Lia Sicherheit. Der junge Polizist unterrichtete Chief Inspector Gerrish von ihrer Ankunft.
Gerrish holte sie persönlich ab und führte sie in sein Dienstzimmer, wo das gleiche Chaos herrschte wie bei Lias erstem Besuch. Dort stellte er sofort klar, dass er Lia keines Verbrechens verdächtigen. Man nehme jedoch an, dass sie Informationen besäße, die zur Aufklärung von vier Todesfällen beitragen könnten.
»Vier?«, fragte Lia.
»Das dürfte keine Überraschung für Sie sein«, sagte Gerrish.
Es handle sich um die Morde an zwei lettischen Frauen, Daiga V ī tola und Anita Klusa, präzisierte er. Und an zwei lettischen Berufsverbrechern, Kazimirs Vanags und Olafs Jansons. Die Leichen der beiden Männer seien aufgrund von Lias Hinweis zu Vanags gefunden worden. Die Polizei habe alle Gebäude überprüft, die sich mit Vanags in Verbindung bringen ließen.
Lia erklärte, Fragen zum Tod der beiden Männer könne sie nicht beantworten.
»Aber über die Frauen weiß ich vielleicht etwas.«
»Woher haben Sie Ihre Informationen über die Frauen?«, erkundigte sich Gerrish.
»Von einer lettischen Prostituierten, die beide gekannt hat.«
Nun begann eine eingehende Vernehmung. Wer war diese Prostituierte? Wo war Lia ihr begegnet? Wie hatte sie den Kamm im Eastern Buffet entdeckt? Warum war sie überhaupt in das Geschäft gegangen?
Lia gab nur kurze Antworten. Sie hatte sich im Voraus überlegt, was sie sagen konnte. Sie verschwieg Elzas Namen und beschrieb ihr Aussehen nur vage. Angeblich hatte sie im Club Flash Forward lettische Prostituierte kennengelernt und sich später mit einer von ihnen im Café des Einkaufszentrums in Oakley getroffen.
Sie verschwieg ihre Besuche in der Vassall und der Sangley Street und behauptete, Vanags Namen nur von der Prostituierten gehört zu haben. Von einem Olafs Jansons wisse sie nichts. Soweit sie sich erinnere, sei sie im Eastern Buffet von einer jungen Frau bedient worden. Erst durch den Bericht der Prostituierten sei ihr klar geworden, dass der Besitzer des Ladens offenbar ein Schwerverbrecher war.
Jedes Mal, wenn Gerrish versuchte, nach Vanags und Jansons zu fragen, mischte sich Fiona Gould ein.
»Miss Pajala hat bereits gesagt, dass sie über diese Männer nichts weiß.«
Die Vernehmung dauerte weit über eine Stunde. Gerrish legte nur eine kurze Pause ein, um Kaffee und Tee zu holen.
Er führte die Vernehmung in raschem Tempo, und es fiel Lia manchmal schwer, die richtigen Worte zu finden. Doch Gerrish warf ihr nichts vor. Er war aufmerksam, setzte sie aber nicht unter Druck.
Er weiß, dass ich viel mehr Informationen habe. Aber er glaubt, dass ich eher auf seiner Seite bin als gegen ihn.
Gerrish zeichnete das Gespräch mit einem digitalen Aufnahmegerät auf und machte sich am Computer Notizen. Schließlich lehnte er sich zurück, speicherte die Datei ab und reckte sich. Er setzte sich bequemer hin und trank seinen kalt gewordenen Tee.
»Danke, Miss Pajala«, sagte er.
Instinktiv entspannte Lia sich.
Aber das Aufnahmegerät läuft weiter. Er will mich glauben
Weitere Kostenlose Bücher