Die Frau ohne Gesicht
spürte. Der nächtliche Anfall hatte sie gelöst. Auch er schien bereits weit zurückzuliegen.
Sie vereinbarten einen neuen Termin in einer Woche. Bevor sie ging, lag Lia noch eine Frage auf dem Herzen.
»Kann sich der Anfall, den ich letzte Nacht hatte, wiederholen?«
»Das kann man nicht vorhersagen. Die Menschen reagieren auf solche Situationen ganz unterschiedlich. Meistens braucht man Zeit, um darüber hinwegzukommen. Aber in Anbetracht der Umstände wirkst du erstaunlich stabil.«
Rico begleitete Lia im Taxi in die Kidderpore Avenue. Da er merkte, dass sie nicht bis an die Tür gebracht werden wollte, verabschiedete er sich schon im Wagen.
Lia ging in ihre Wohnung im Souterrain. Sie duschte erneut und zog sich um. Es war halb drei Uhr nachmittags.
Sie rief in der Level -Redaktion an und sagte, ihre Erkältung klinge ab und sie werde am nächsten Morgen wieder arbeiten können.
Dann wollte sie den Computer einschalten und die Nachrichten lesen, überlegte es sich jedoch anders. Sie streckte sich auf dem Bett aus und horchte in sich hinein.
Sie dachte an Olafs Jansons und an die Waffe in seiner Hand. Sie dachte an ihren Zusammenbruch auf dem Campingplatz.
Es kamen keine Tränen. Sie spürte keine Panik.
Nach einigen Minuten merkte Lia, dass sie Bewegung brauchte. Sie zog ihre Joggingsachen an und steckte Geld ein. An ihrer Laufstrecke in North End lag ein gutes Falafel-Restaurant.
44.
Arthur Fried machte seinen Gegenzug am Freitagmorgen in der Livesendung von ITV 1. Er gab sein erstes Interview seit Beginn des Wirbels um den Steuerbetrug seiner Firmen und die Zahlungen der Fair Rule an rassistische Vereine.
Die Moderatorin des Frühstücksfernsehens stellte durchaus kritische Fragen, aber der fünfminütige Auftritt wurde dennoch zu einem Monolog, bei dem Fried zwei Aussagen machte.
Seine erste Botschaft besagte, dass er unschuldig und zu Unrecht als Bösewicht abgestempelt worden sei. Sollten ihm bei seiner unternehmerischen Tätigkeit Fehler unterlaufen sein, so handle es sich um bedauerliche Irrtümer, für die er sich aufrichtig entschuldige. Für die Gelder, die seine Partei verteilte, seien andere Personen zuständig, aber als Vorsitzender bürge er persönlich dafür, dass die Angelegenheit in Ordnung gebracht werde, falls es tatsächlich Unregelmäßigkeiten gegeben habe.
Seine zweite Aussage war, dass er sich zwei Tage zuvor zum Pfarrer hatte weihen lassen.
»Deshalb habe ich so lange geschwiegen«, sagte er und blickte direkt in die Kamera. »Nachdem diese Vorwürfe aufkamen, musste ich mir darüber klar werden, was für ein Mensch ich bin. Ob ich der Mann bin, für den ich mich immer gehalten habe. Ehrlich, aufrecht, zutiefst pflichtbewusst. Oder ob ich hinterhältig und hartherzig bin, wie man mir jetzt vorwirft.«
Die Selbsterforschung habe mehrere Tage in Anspruch genommen. Er habe mit seiner Frau und mit dem Pastor seiner Heimatgemeinde gesprochen.
»Und ich habe geweint. Allein und mit meiner Frau«, sagte Fried.
Die Augen der Moderatorin leuchteten auf. Das war glänzendes Material. Diese Szene würde im Lauf des Tages in allen Nachrichtensendungen gezeigt werden.
»Ich habe geweint, als mir klar wurde, wo ich Fehler gemacht habe«, fuhr Fried fort. »Der Erfolg der Partei hat mich getrieben, vorwärtszueilen und Dinge zu delegieren, um die ich mich selbst hätte kümmern müssen.«
Nach all diesen Überlegungen hatte Arthur Fried das Bedürfnis verspürt, sich zu reinigen.
»Wenn man die Richtung korrigieren muss, sollte man es so tun, dass sich wirklich etwas ändert.«
Er hatte sich in einer Mormonengemeinde in Ostlondon zum Pfarrer weihen lassen. Es war nicht seine Heimatgemeinde, aber dort wurden auch Laien ordiniert. Fried gehörte nun zum Stand der Melkisedek-Priester. Er hatte am Vortag seine erste Predigt gehalten, vor einer kleinen Hörerschaft im Gemeindesaal.
»Ich habe noch nie eine solche Erleichterung verspürt. Ich weiß, dass ich auf dem richtigen Weg bin. Und ich werde als Parteiführer weiterarbeiten und an dem Gerechtigkeitssinn festhalten, der nun noch erstarkt ist.«
Mari rief Lia an, sobald das Interview beendet war.
»Geschickt gemacht.«
Fried hatte kein einziges Mal zugegeben, selbst ungesetzlich gehandelt zu haben, sondern die Schuld auf andere abgewälzt, ohne Namen zu nennen. Er hatte bestimmte Worte – tief, Gerechtigkeit, Pflicht – mehrmals wiederholt und so den Eindruck erweckt, dass er aufrichtig über sein Leben nachgedacht
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