Die Frau ohne Gesicht
gelaufen, da, wo im Sommer Gänse sind?«, fragte Lia.
»Ja.«
»Ich war in letzter Zeit ziemlich beschäftigt. Ich habe neue Freunde kennengelernt, und bei der Arbeit gab es … einiges zu tun«, erklärte Lia.
Sie fügte hastig hinzu, sie könne über Weihnachten nicht nach Finnland kommen. »Ich habe nur ein paar Tage Urlaub.«
Diese Erklärung akzeptierte ihr Vater. Arbeit. Arbeit entschuldigte alles.
»Wie geht es dir im Beruf?«, fragte er.
»Ganz gut. Na ja, vor ein paar Monaten ist mir klar geworden, was für ein widerlicher Typ mein Boss ist. Der Chefredakteur. Es stört mich weiter nicht, aber ich habe mir überlegt, dass ich vielleicht nicht für immer bei Level bleibe.«
Sie bedauerte die Bemerkung sofort. Die Stimme ihres Vaters klang augenblicklich besorgt.
»Aber du hast doch eine gute Stelle. Die gibt man doch nicht einfach auf. Man muss immer versuchen, sich mit dem Chef gutzustellen, egal wie er ist.«
»Natürlich komme ich mit ihm aus. Aber ich habe nicht vor, mir alles von ihm gefallen zu lassen.«
»Gute Chefs gibt es wahrscheinlich gar nicht. Man muss sie nehmen, wie sie sind.«
»Danke, Vati, aber lass das nur meine Sorge sein. Ich entscheide selbst, wo ich bleiben will.«
Es wurde still.
»Was ist denn in dich gefahren?«, fragte ihr Vater schließlich. »Dass du so redest?«
»Ich weiß nicht.«
»Liegt es an diesen neuen Freunden? Was sind das für Leute?«
Lia seufzte.
»Ganz normale, anständige Leute. Eine Finnin ist auch dabei.«
»Na, das ist gut. Bei Finnen weiß man immer, woran man ist.«
Als sie das Gespräch beendete und ihrer Mutter Grüße bestellte, wusste Lia mit Sicherheit, dass sie über Weihnachten nicht bei ihren Eltern sein und sich schwach fühlen wollte. Sie wusste aber auch, dass sie es bereuen würde, wenn sie ihnen keinen Weihnachtsgruß schickte.
Sie suchte in einem Webshop einige CD s und eine DVD -Box mit einer Naturserie der BBC aus und zahlte fast hundert Pfund dafür, dass ihre Bestellung in Geschenkverpackung per Kurierdienst noch am nächsten Tag, an Heiligabend, geliefert wurde.
Der Preis war nicht zu hoch für ein ruhiges Gewissen.
Weihnachten verbrachte Lia zu Hause in der Kidderpore Avenue. Sie kaufte gutes Essen und hörte ihre Lieblingsmusik.
Sie dachte an die Ostsee, die vom Haus ihrer Eltern zu sehen war und bis Lettland reichte. Vier der Frauen waren dorthin zurückgekehrt. Lia wusste nicht, ob es eine glückliche Rückkehr gewesen war, doch bei dem Gedanken, dass sie Weihnachten in ihrer Heimat verbrachten, stiegen ihr Tränen in die Augen.
Per SMS fragte sie Mari, ob sie etwas aus Lettland gehört hätte.
Dort sei alles in Ordnung, schrieb Mari zurück. Sie habe es von Ausma gehört, die von London aus ihre Großmutter Henriete in Riga angerufen habe. Alle vier Frauen waren unversehrt nach Hause zu ihren Angehörigen gelangt. Henriete gehe es den Umständen entsprechend gut. Sie habe ihren Verwandten erzählt, dass Daiga in London gestorben sei. Daraufhin sei Daigas Exmann aufgetaucht, um ihre Sachen zu holen. Henriete habe ihn aus dem Haus geworfen.
Lia musste lachen, als sie sich vorstellte, wie Henriete V ī tola ihren missratenen Schwiegersohn achtkantig hinauswarf.
Sowohl an Heiligabend als auch am ersten Feiertag joggte Lia ausgiebig. Es war perfekt. Sechzehn Kilometer in Hampstead Heath, das idyllische Szenen bot: Familien mit spielenden Kindern, alte Leute, die auf den Parkbänken saßen, bis es ihnen zu kühl wurde, Hunde, die Herrchen oder Frauchen hinter sich herzogen.
Am ersten Feiertag klingelte sie nach dem Joggen bei Herrn Vong und sie spielten sieben Stunden lang Karten. Herr Vong fragte, ob es Lia recht sei, dass im Hintergrund Weihnachtsmusik spielte, er habe nämlich so ein feines, kleines entenförmiges Weltradio.
Lia war es sehr recht. Sie genoss jede Minute. Herr Vong fühlte sich zum Glück nicht bemüßigt, Weihnachtsgebäck oder irgendeinen Imbiss aufzutischen. So saßen sie in aller Ruhe am Tisch, spielten und tranken Tee.
Am zweiten Feiertag ging Lia aus und riss in der Goals-Bar innerhalb einer halben Stunde einen Mann auf. Ollie war lustig, intelligent und ebenso wenig an Weihnachtstraditionen interessiert wie sie. Außerdem erwies er sich als guter Liebhaber. Als sie in dem breiten Hotelbett lagen, schlug er vor, bis zum nächsten Morgen zu bleiben.
Lia frühstückte mit Ollie im Hotel. Das entsprach ganz und gar nicht ihrer Gewohnheit, doch es gefiel ihr.
Ich könnte mich an so etwas
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