Die Frau ohne Gesicht

gewöhnen. Ich könnte ab und zu für so etwas von meiner Routine abweichen. Ab und zu.
    Sie ging rasch nach Hause, um sich umzuziehen. Als sie ein wenig später als sonst die Redaktion betrat, sah sie sofort, dass etwas geschehen war. Die Kollegen standen in kleinen Grüppchen beieinander und redeten. Sicher nicht darüber, wie sie die Feiertage verbracht hatten.
    »Was ist los?«, erkundigte sich Lia bei Sam.
    »Matt Thomas verlässt uns.«
    Er war zum stellvertretenden Chefredakteur von News of the World ernannt worden. Da er in den Dienst eines anderen Medienkonzerns trat, war seine Kündigung sofort in Kraft getreten. Der Aufsichtsrat des Unternehmens, dem Level gehörte, war kurzfristig zu einer Telefonkonferenz einberufen worden, um die notwendigen Beschlüsse zu fassen.
    »Aha« und wenig später ein »Oho« war alles, was Lia herausbrachte.
    »Genau. Thomas ist noch in seinem Zimmer. Wir bereden gerade, ob wir auf die Schnelle eine Abschiedsfeier aufziehen sollen. Und wie wir die Arbeit aufteilen.«
    Lia setzte sich auf ihren Platz und ließ die Nachricht auf sich wirken.
    Dann erklärte sie sich bereit, bei der Vorbereitung der Abschiedsfeier zu helfen. Sie erhielt die Aufgabe, eine Torte zu besorgen, und kaufte in einem Supermarkt in der Nähe die größte, die sie finden konnte.
    Um elf Uhr kam Matt Thomas aus seinem Zimmer. Er hatte im Lauf des Vormittags mehrere Telefongespräche geführt und seinen Schreibtisch leergeräumt.
    Er freute sich, als er die Torte, den Kaffee und die Sektflaschen sah, die die Redaktionsmitglieder besorgt hatten.
    Bei der Abschiedsfeier herrschte eine fröhliche Stimmung, und Lia glaubte zu bemerken, dass außer ihr auch viele andere über Thomas’ Abschied erleichtert waren. Während sie noch feierten, kam die Nachricht, dass der Aufsichtsrat beschlossen hatte, Timothy Phelps zum stellvertretenden Chefredakteur zu ernennen, bis die Stelle neu besetzt wurde. Erneut wurde Sekt eingegossen.
    Alle gratulierten Timothy, und Matt Thomas hielt eine kurze Rede, in der er hauptsächlich über die niedrige Auflage klagte.
    »Jetzt mal raus mit der Wahrheit, Matt. Haben sie dich abgeworben, oder hast du dir die Stelle selbst gesucht?«, fragte Timothy.
    »Sie haben mich angerufen«, versicherte Thomas. »Ich wusste nicht einmal, dass News of the World einen zweiten Chefredakteur sucht. Sie haben mir ein sehr gutes Angebot gemacht. Und ich habe immer schon geplant, eines Tages bei einer großen Zeitung zu landen.«
    Der selbstgefällige Idiot.
    Lia musterte den grinsenden Thomas und dachte über Tims Frage nach. Sie schien ihr wichtig. Was machte ausgerechnet Matt Thomas so interessant für die News of the World ? Das auflagenstarke, oberflächliche Sensationsstorys verbreitende Boulevardblatt bediente einen ganz anderen Sektor und ein anderes Publikum als Level . Und in aller Regel wurden Führungspositionen bei Zeitungen intern besetzt.
    Die Frage ließ Lia keine Ruhe.
    Sie rief Mari an. An den Feiertagen hatten sie nicht miteinander telefoniert, sich nur ein paar SMS geschickt.
    »Wie geht’s?«, fragte Lia.
    »Viel Arbeit«, erwiderte Mari. »Am ersten Feiertag habe ich mir aber ein paar Stunden freigenommen.«
    Lia platzte damit heraus, dass ihre Redaktion eben erfahren habe, dass der Chefredakteur wechselte.
    »Tatsächlich? Interessant«, sagte Mari.
    Lia wartete einen Moment.
    »Wusstest du davon?«
    Mari zögerte die Antwort hinaus.
    »Ja.«
    »Du hast Thomas den neuen Job verschafft?«
    »Ich war daran beteiligt. Aber Matt Thomas wollte wirklich zu einer größeren Zeitung. Ich brauchte nur ein bisschen nachzuhelfen.«
    »Wie hast du das gemacht?«
    Mari erklärte, sie habe nachgeforscht, welche Zeitungen Mitarbeiter für Führungspositionen suchten. Manche Stellen würden öffentlich ausgeschrieben, andere Zeitungskonzerne suchten in aller Stille nach neuen Kräften. Die Stelle bei News of the World habe zu dieser zweiten Kategorie gezählt. Einer von Maris Bekannten habe dem Verleger von News of the World den Hinweis gegeben, dass Matt Thomas möglicherweise an einer neuen Aufgabe interessiert sei. Thomas wiederum sei begeistert gewesen, als er zum Vorstellungsgespräch gebeten wurde.
    »Wahrscheinlich glaubt er, das Hintergrundinterview bei Lift hätte dazu beigetragen. Hat es ja auch irgendwie.«
    Ich hätte es wissen müssen. So gute Zufälle gibt es nicht.
    »Tut es dir etwa leid, dass ich Thomas geholfen habe, Level zu verlassen?«, fragte Mari.
    »Nein. Aber es ist