Die Frau ohne Gesicht
der Tag trotz aller Hektik eine Lücke aufwies. Heute hätte Sarah Hawkins’ Video der Organisation The Wall zugespielt werden sollen, die es erschüttert an die Öffentlichkeit gebracht hätte.
In dieser Woche sollte Fried stürzen.
Das Gespräch mit Elizabeth Brooke lenkte sie von diesem Gedanken ab. Die Ärztin befragte Lia eingehend, wie es ihr gehe, ob sie schlafen könne, ob sie Medikamente brauche oder irgendwelche Symptome von Stress wahrnehme.
Das wäre wohl zu erwarten. Aber ich habe nichts bemerkt.
Lia sprach eine Frage an, die sie nicht losließ: Darf man froh sein, dass jemand stirbt? War es falsch, Erleichterung zu verspüren, wenn es sich um abgrundtief böse Menschen handelte?
»Darauf gibt es wohl keine eindeutige Antwort«, sagte Dr. Brooke. »Wir bewegen uns hier im Grenzgebiet von Gesetz und Moral. Aber es wäre merkwürdig, wenn man in einem solchen Fall nicht auch erleichtert sein dürfte.«
Am Ende der Sitzung sagte Elizabeth Brooke, sie freue sich für Lia.
»Dein Anfall in der vorigen Woche war so heftig, dass ich mit einem langwierigen Genesungsprozess gerechnet hätte. Aber es ist gut möglich, dass es nur ein isolierter Anfall war. Wenn du dich weiterhin wohl fühlst, brauchst du vielleicht keine längere Therapie.«
Lia verschwieg, dass sie am vorigen Tag niedergeschlagen worden war. Sie hielt es nicht für nötig, den Vorfall zu erwähnen.
Ich bin vor Arthur Fried nicht in Tränen ausgebrochen. Ich hatte keinen Panikanfall. Und keine Albträume.
Mich erschreckt man nicht mehr so leicht.
Zu Hause dachte sie über die vor ihr liegende Woche nach. Nur noch wenige Tage bis Weihnachten. Ein Arbeitstag bei Level , dann ein kurzer Weihnachtsurlaub. Keine Pläne.
Sie rief Mari an. »Was tut sich bei dir?«
Mari lachte auf.
»Immer dasselbe. Gedanken. Grübeleien.«
»Hast du Pläne für Weihnachten?«
»Nein. Ich glaube nicht, dass ich nach Finnland fliege; Weihnachten im Familienkreis würde ich im Moment nicht verkraften. Wahrscheinlich mache ich einfach hier weiter.«
»Mit dem Denken?«
»Ja.«
»Kann ich dich für nichts anderes begeistern?«
»Zum Beispiel?«
»Na ja. Joggen. Kino. Clubs. Oder wir könnten in irgendeiner Suppenküche für Bedürftige mithelfen. Irgendwas anderes tun, als nur zu existieren.«
»Danke, ein andermal gern. Aber nicht jetzt. Nicht in diesem Jahr.«
»Na gut, bleiben wir in Verbindung. Vielleicht fällt uns noch was ein.«
Lia vermutete, dass Mari sich nicht bei ihr melden würde.
Am Dienstag ging es in der Redaktion hektisch zu, doch trotz der Eile tranken sie am Ende des Arbeitstages miteinander Wein, aßen Weihnachtsgebäck und wünschten sich schöne Feiertage.
Lia wünschte auch dem Chefredakteur Matt Thomas ein frohes Fest und kam sich dabei ganz und gar nicht verlogen vor. Matt Thomas hatte sich dank Maris List schon vor Monaten als kompletter Idiot erwiesen, doch Lia hatte keine Zeit gehabt, darauf herumzureiten. Sie hatte sich allmählich mit dem Gedanken angefreundet, sich irgendwann einen neuen Job zu suchen.
Zwei Tage bis Heiligabend. Lia holte den Gutschein hervor, den Mari ihr geschenkt hatte. Ein offenes Ticket im Wert von sechshundert Pfund. Sie klickte sich auf die Website der Fluggesellschaft und sah sich die Angebote für die nächsten Tage an. Es schienen nur noch teure Flüge oder uninteressante Ziele zur Auswahl zu stehen.
Da entdeckte sie einen Flug nach Helsinki. Am 24. Dezember frühmorgens hin und am zweiten Feiertag zurück, zum stolzen Preis von 589 Pfund. Dafür reichte der Gutschein. Aber Lia wollte Weihnachten nicht bei ihren Eltern in Helsinki verbringen.
Ihr wurde plötzlich bewusst, dass der letzte Anruf bei ihren Eltern schon lange zurücklag.
Ihr Vater meldete sich schon beim dritten Klingeln.
»Hallo. Ich bin’s«, sagte Lia.
»Lia? Schön, von dir zu hören.«
Ihre Mutter sei gerade aus dem Haus gegangen, um Kartoffeln zu besorgen, morgen solle es Steak mit Kartoffelmus geben.
Lia hörte im Hintergrund die finnischen Fernsehnachrichten und wusste, dass ihr Vater in seinem Lieblingssessel saß, von wo aus er sowohl einen Blick auf den Fernsehbildschirm als auch auf das Fenster zur Ostsee hin hatte.
Sie erkundigte sich, wie es ihnen ging.
Ihre Mutter sei wegen Rückenschmerzen beim Arzt gewesen, doch die Ergebnisse der Untersuchung lägen noch nicht vor. Ihr Vater habe nach langer Zeit endlich wieder joggen können, seine Knie spielten zum Glück wieder mit.
»Bist du die Uferstrecke
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