Die Frau ohne Gesicht
seien und sich mit ihrer Sachkenntnis revanchierten. Deshalb habe sie gute Investitionen und Anschaffungen machen können.
»Du bist reich«, stellte Lia fest, hauptsächlich, um sich selbst zu überzeugen, denn Mari hatte in ihrer Gegenwart nie mit Geld um sich geworfen.
»Millionärin bin ich nicht. Aber ich habe so viele verschiedene Anlagen, dass ich mir keine Gedanken über Geld zu machen brauche.«
Lia musste lachen.
»Was ist?«
»Mir ist gerade wieder eingefallen, was du über deine Familie gesagt hast. Dass sich bei ihnen politisches Verantwortungsbewusstsein mit dem Wunsch paart, Geld zu machen. Sozialisten mit großen Eigenheimen.«
Auch Mari lachte nun, und plötzlich fühlte Lia sich besser.
Sie ist noch immer die Frau, als die ich sie kennengelernt habe.
Allmählich war Lia zu müde für weitere Fragen. Der Tag war aufreibend gewesen. Der Wein nahm ihren Gedanken die Schärfe. Als Mari weiter über das Studio sprach, kam es Lia vor, als höre sie Geschichten über einen ganz normalen Arbeitsplatz.
»Sie sind intelligent«, charakterisierte Mari ihre Mitarbeiter. »Menschen, deren Ansichten mich interessieren, die ich hören möchte. Sie besitzen Lebenserfahrung. Und die Fähigkeit, Dinge zu analysieren.«
Im Studio herrschte ein ganz besonderer Teamgeist.
Rico war der Erste, den Mari angeheuert hatte. Ein brasilianischer Computerfreak um die dreißig, der nach London gekommen war, um das große Geld zu machen. Er war in den Slums von São Paulo aufgewachsen, wo er schon als Kind gelernt hatte, alte, ausrangierte Computer auseinanderzunehmen, zu reparieren und mit neuen Eigenschaften, Programmen und Speicherkapazität auszustatten.
»Bisher hat er mit seinen Computern noch alles zustande gebracht – wenn er nur ein paar Tage Zeit bekommt.«
Als Hacker in andere Computer einzudringen war ein Kinderspiel für Rico. Viel interessanter fand er selber die Lenkung ganzer Datenverkehrssysteme von außen. Im Studio hatte er sich auch in der Verwendung von Feinmechanikinstrumenten üben können.
Der Chef der »Bude«, der sechzigjährige Berg, war in Schweden geboren, hatte aber den größten Teil seines Lebens in England verbracht. Berg war Tischler und vieles mehr. Er schuf aus Holz, Stoff, Plastik oder Metall, was immer man sich vorstellen konnte. Und wenn Druckerzeugnisse gebraucht wurden, um beispielsweise ein imaginäres Unternehmen auszustatten, legte er eine perfekte Arbeit vor.
»Er ist ein Tüftler. Du wirst ihn mögen«, versicherte Mari.
Die Frau, die Lia als Carol Penn auf dem Bildschirm gesehen hatte, war die Schauspielerin Maggie Thornton. Maggie hatte die RADA , die Royal Academy of Dramatic Arts, besucht und auf vielen Bühnen in Großbritannien gespielt. Von Beginn an hatte die Schauspielerin Wert darauf gelegt, alles zu erforschen, was irgendwie mit ihrer jeweiligen Rolle zu tun hatte. Im Studio war sie deshalb auch für Recherchen zuständig: Sie war gut darin, schnell Informationen zu sammeln und sie den anderen kurz und knapp zu vermitteln.
Da es für alternde Schauspielerinnen wenig Rollenangebote gab, war sie ein paar Jahre arbeitslos gewesen, bevor Mari sie eingestellt hatte. Für einzelne Einsätze engagierte Mari auch andere Schauspieler, wie den Mann, der beim Interview als Robert Cansai aufgetreten war.
Der fünfte und letzte feste Mitarbeiter des Studios war Patrick Moore.
»Wir nennen ihn Paddy. Er ist seltener hier als die anderen. Er arbeitet auch für andere Auftraggeber, auf eigene Rechnung.«
Paddy Moore war Privatdetektiv und kümmerte sich im Studio um all das, was mit konkreten Sicherheitssystemen zu tun hatte oder Polizeierfahrung erforderte. Er war es auch, der den Mitarbeitern des Studios beigebracht hatte, wie man Ermittlungen anstellte und Personen beschattete.
Paddy hatte die Polizeischule besucht und zwei Jahre als Polizist in London gearbeitet, doch die Aufstiegschancen hatten ihn enttäuscht. Deshalb war er zu privaten Sicherheitsunternehmen gewechselt, wo er sich auf den Personenschutz wichtiger Persönlichkeiten spezialisiert hatte.
»Paddy wirkt ungeschliffen, aber er ist der einfallsreichste Mann, den man sich vorstellen kann. Er findet auf Anhieb sichere Mittel und Wege, und wenn es keine gibt, ›macht‹ er sie.«
Zu Paddys Vorgeschichte gehörte auch ein Ausrutscher in die Kriminalität. Er hatte mit zwei anderen Männern in Manchester einen Geldtransporter der Firma Thomas Cook überfallen, war erwischt und zu sechs Jahren Gefängnis
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