Die Frau ohne Gesicht
Entscheidung«, fuhr Mari fort.
»Einverstanden. Das ist toll!« Lia sprang begeistert auf.
»Freu dich nicht zu früh«, sagte Mari. »Das ist noch nicht alles. Ich erwarte einen Gegendienst.«
»Okay. Worum geht’s?«, fragte Lia und setzte sich wieder hin.
»Ich möchte, dass du uns hilfst, Arthur Fried aufzuhalten.«
14.
Lia warf einen Blick auf die große Wanduhr oberhalb der Tür. Erst fünf Minuten vor acht. Es würde noch eine Weile dauern, bis die Kollegen erschienen.
Sie war so früh in die Redaktion gekommen, um in Ruhe lesen zu können, was das Archiv über Arthur Fried hergab. Sie nahm einen Schluck von dem Automatenkaffee, dessen Bitterkeit selbst mit reichlich Milch nicht zu mildern war, und klickte den nächsten Artikel an: »Fried will Rekordzahl von Kandidaten aufstellen.«
In den Datenbanken von Level fand sich neben den eigenen Artikeln eine beachtliche Menge von Beiträgen anderer britischer Zeitungen. Level hatte das Zugangsrecht erworben, damit die Redakteure Hintergrundmaterial sammeln konnten. Über Arthur Fried gab es mehr als genug davon.
Natürlich hatte Lia schon vor Mari von Fried gehört. Er war ein bekannter Politiker, der Vorsitzende der kleinen rechtsextremen Partei Fair Rule. Seine Reden versetzten seine Anhänger regelmäßig in Ekstase.
Mit dem Programm und den Auffassungen seiner Partei hatte Lia sich bisher aber nicht genauer beschäftigt. Ihr eigener politischer Standpunkt lief im Wesentlichen darauf hinaus, dass sie keinen hatte. Sie hatte bei den Konservativen wie bei den Liberalen, der Arbeiterpartei und den Grünen Ideen gefunden, die ihr vernünftig erschienen, und war heilfroh, dass sie als Ausländerin nicht wahlberechtigt war.
Aber gegenüber Fair Rule stand sie instinktiv in Opposition.
Vielleicht verläuft hier die große politische Grenze in unserer Zeit. Sie liegt schon lange nicht mehr zwischen der Rechten und der Linken.
Die Lektüre der Zeitungsartikel bestätigte sie in ihrem Urteil. Fair Rule trat für Ordnung und Disziplin ein, für Rassenhygiene und christliche Traditionen. Die Partei lehnte Unmengen von Dingen ab, angefangen von neuen urbanen Events wie Flashmobs bis hin zu allem, was mit der Subkultur von Jugendlichen, den Rechten Homosexueller und der Sozialhilfe für Alleinerziehende zu tun hatte. Sogar etwas derart Harmloses wie Schülerfußballclubs stieß bei der Partei auf Kritik: Sie erklärte, sie trete zwar für Sport ein, lehne aber eigene Mannschaften und Trikots für Migrantenkinder ab.
Die heftigsten Diskussionen hatte der strikte Standpunkt der Partei zum Thema Abtreibung ausgelöst. Fair Role wollte Abtreibungen schlichtweg verbieten. Auch in Fällen, in denen die meisten einen Abbruch billigten: bei missbrauchten oder vergewaltigten Frauen. Für die Vertreter von Fair Rule war das Leben heilig – ein pikanter Widerspruch zu einem ihrer anderen Parteiziele, der Wiedereinführung der Todesstrafe. Darüber hatte die Presse deutlich weniger geschrieben, vermutlich deshalb, weil niemand an die Rückkehr des Galgens glaubte.
Arthur Fried trat als lächelnder Parteiführer auf, der seine Reden mit griffigen Formulierungen spickte. Wie viele Politiker wiederholte auch er in allen Interviews einige ausgewählte Schlagworte. Das eingängigste – und in Lias Ohren abstoßendste – lautete » Get Britain back «. Es gelang Fried immer wieder, es in den Interviews unterzubringen, obwohl die Reporter sich bemühten, die offenkundigsten Werbesprüche zu verhindern.
» Britannien zurückholen.« Was zum Teufel bedeutet das?
Fried verwendete den Slogan in beinahe jedem Zusammenhang. Auf die Frage der Times , was er damit meine, hatte er eine weitschweifige Erklärung über die heutige Gesellschaft geliefert, die unter den »schlimmen Folgen des multikulturellen Gedankens und einer zügellosen Freiheit« leide.
Muslime raus und die ganze Macht den Weißen, das ist es, was er will.
Der Gedanke schien jedoch zunehmend Anklang zu finden. Bei Parlaments- und Kommunalwahlen hatte Fair Rule bisher nur ein oder höchstens anderthalb Prozent der Stimmen erhalten, doch in der jüngsten Umfrage lag die Partei bereits bei drei Prozent.
Lia betrachtete Fotos von Arthur Fried. Er war ein relativ großer Mann, blonde Haare, ein nettes Gesicht. Nicht wirklich gut aussehend, aber bei seinen Auftritten sicher charismatisch. Das etwas steife Äußere wurde durch sein breites Lächeln in den Hintergrund gerückt. Seine Zähne waren poliert und strahlend
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