Die Frau ohne Gesicht
ist innerlich noch nicht mit dem Studio verwachsen, doch das macht nichts. Sie braucht einfach mehr Zeit.
Mari weiß, wie es geschehen muss. Deshalb hat sie genau geplant, wie und wann Lia die Studio-Leute kennenlernt.
Maggie und Berg sind liebenswürdig und zuverlässig. Sie hat Lia als Erste zu Gesicht bekommen. Mari fühlt sich glücklich, wenn sie an die beiden denkt. Sie sind ihr ruhender Fels.
Rico und Paddy, die Lia erst nach und nach kennenlernen durfte, waren Waffen, die man nicht zeigen kann, bevor ihre Existenz zur Gewohnheit geworden ist. Noch eine Weile, und Lia wird aufhören, sich über sie und ihre Talente zu wundern.
Sie alle haben einen Grund, hier zu sein. Mari hat ihnen allen im Lauf der Jahre einen Gefallen erwiesen, Rico, Maggie, Berg und Paddy – genauso wie jetzt Lia. Jeder von ihnen war einmal Gegenstand eines ihrer Einsätze. Sie hat ihnen geholfen, ohne einen Gegendienst zu verlangen, hat ihnen Zeit gelassen, die Wirkung ihrer Hilfe zu sehen und selbst zu entscheiden, wie sie sich verhalten. Ob sie ihrerseits etwas beitragen wollen.
Sie tragen keine Dankesschuld ab, sondern sind heute zufriedener mit ihrem Leben.
Die Bindung, die entsteht, wenn ein Mensch sich verändert und eine Gemeinschaft findet, in der er arbeiten will, ist stärker als manch andere.
Mari hat sie alle sorgfältig ausgewählt. Auf jeden ist sie durch eine Kleinigkeit aufmerksam geworden. Als sie von Lia, der Finnin in London, hörte, wusste sie sofort, dass dieser Zufall zu irgendetwas führen würde.
Mari hat gelernt, sich auf ihren Instinkt zu verlassen. Er hatte sie geleitet, als sie Rico unter den Hackern wählte und Maggie auf einer kleinen Londoner Bühne sah, wo sie prachtvoll deklamierend in einer antiken Tragödie auftrat.
Dann erwähnte Maggie im Studio einmal die bühnenbildnerische Begabung ihres Bekannten Berg, und Mari wusste sofort, dass sie ihn kennenlernen wollte. Auf Paddy stieß sie in einer Bar. Sie hatte ihm seine Spielschulden und seine Knasterfahrung angesehen und geahnt, welche Wärme zwischen ihm und ihr allmählich entstehen könnte.
Es gibt Dinge, die Mari keinem von ihnen erzählt. Rico weiß am meisten, er war der Erste in ihrem Team, und seine Hilfe braucht sie oft. Aber auch er weiß nicht alles.
Lia weiß am wenigsten. Aber zwischen ihnen wächst ein anders geartetes Vertrauensverhältnis heran als zwischen ihr und den anderen im Studio.
Lia empfindet sich als verschlossen und ein wenig verloren. In Wahrheit ist sie stark und effektiv. Sie hat eine aussichtsreiche Stellung in der Londoner Presse erreicht, was für eine junge Ausländerin keine geringe Leistung ist. Dennoch hält sie ihren Lebenskreis bewusst eng, lebt allein in ihrer kleinen Wohnung und hält an ihrer täglichen Routine fest. Das liegt an ihrer Vergangenheit in Finnland.
Lia wird stark werden. Sie braucht nur Zeit, sie braucht die Gelegenheit, Dinge zu tun und zu lernen. Mari weiß, dass Lia die Mühe wert ist.
18.
Nie und nimmer hätte Lia im Flash Forward aus freien Stücken einen Abend zugebracht. Alles war laut und hart: die Musik, die Lichter, die Farben und die Blicke der Menschen.
Ein Aufreißlokal. Welche Ironie des Schicksals: Lia war oft genug im Londoner Nachtleben auf Männerjagd gegangen, doch hier fühlte selbst sie sich zahm.
Sie suchte nicht nach Gesellschaft, sondern nach Informationen, und sie hatte den Verdacht, dass man es ihr ansah. Zudem war sie viel zu bieder angezogen.
Um diese Zeit, gegen zehn Uhr, waren etwa zweihundert Gäste im Nachtclub, mehr als die Hälfte Männer, alle im Anzug. Anders als die Briten in den Clubs, die Lia sonst besuchte, trugen viele dieser Männer auffällig leuchtende weiße, rote oder sogar grüne Anzüge.
Die Frauen waren ein Kapitel für sich. Ein derartiges Schwelgen in glänzenden Stoffen und Glitzerschmuck hatte Lia zuletzt auf Partys in den 80er-Jahren gesehen. Alle waren auffällig stark geschminkt und hatten sicher Stunden für ihre Frisuren verwendet. Lia hatte zwar schon vorab vermutet, dass Glitzern hier zum Handwerk gehören würde, und deshalb ihr blaues Top mit den Paillettenstreifen angezogen, doch in dieser Umgebung wirkte es wie schwach glimmende Kohle inmitten eines Waldbrandes.
Das Flash Forward war der Spielplatz der osteuropäischen Einwohner Londons. Den Takt dazu lieferten zu Beginn des Abends Hits von Madonna bis U2; Lia wusste, dass im Lauf der Nacht harter Club Dance Beat zu erwarten war. Maggie hatte es erwähnt, als sie
Weitere Kostenlose Bücher